Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Marjim, was hast du denn von mir aufbewahrt gehabt? Da muß ich doch wissen, was ich ihm für eine Antwort soll geben.

Josseph schloß den Kasten auf; er that es mit jener stillen Ergebenheit in den Willen einer Sterbenden, für die man einen Stern vom Himmel herunterreißen würde. Er war überzeugt, daß er nichts finden würde. Die Sterbekleider fand er wohl am bezeichneten Orte, auch konnte er mit einer gewissen freudigen Traurigkeit bemerken, wie sie in schöner Ordnung aufgeschichtet in der Schublade lagen, aber von dem Nachlasse des Urdede fand er keine Spur.

Ich seh' nichts, Mamme, sagte er endlich nach langem Suchen.

Es muß auf dem untersten Grund liegen, rief Marjim mit großer Bestimmtheit, gerade unter den Tachrichim.

Josseph erschrak fast, als er auf der angegebenen Stelle wirklich ein kleines Bündelchen beschriebener Papiere fand. Er trat damit zum Lichte; der Moderduft der Verwitterung wehte ihn daraus an. Nur mit äußerster Vorsicht konnte er die fast schon ganz zerfallenen Blätter von einander lösen; die wenigen, die sich unversehrt erhalten hatten, waren mit jüdischer Kleinschrift bedeckt, wie man sich deren im gewöhnlichen Leben bedient, aber selbst aus diesen waren viele Stellen ganz unleserlich und die Tinte ganz verblaßt worden.

Marjim, was hast du denn von mir aufbewahrt gehabt? Da muß ich doch wissen, was ich ihm für eine Antwort soll geben.

Josseph schloß den Kasten auf; er that es mit jener stillen Ergebenheit in den Willen einer Sterbenden, für die man einen Stern vom Himmel herunterreißen würde. Er war überzeugt, daß er nichts finden würde. Die Sterbekleider fand er wohl am bezeichneten Orte, auch konnte er mit einer gewissen freudigen Traurigkeit bemerken, wie sie in schöner Ordnung aufgeschichtet in der Schublade lagen, aber von dem Nachlasse des Urdede fand er keine Spur.

Ich seh' nichts, Mamme, sagte er endlich nach langem Suchen.

Es muß auf dem untersten Grund liegen, rief Marjim mit großer Bestimmtheit, gerade unter den Tachrichim.

Josseph erschrak fast, als er auf der angegebenen Stelle wirklich ein kleines Bündelchen beschriebener Papiere fand. Er trat damit zum Lichte; der Moderduft der Verwitterung wehte ihn daraus an. Nur mit äußerster Vorsicht konnte er die fast schon ganz zerfallenen Blätter von einander lösen; die wenigen, die sich unversehrt erhalten hatten, waren mit jüdischer Kleinschrift bedeckt, wie man sich deren im gewöhnlichen Leben bedient, aber selbst aus diesen waren viele Stellen ganz unleserlich und die Tinte ganz verblaßt worden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="12">
        <p><pb facs="#f0180"/>
Marjim, was hast du denn von mir aufbewahrt gehabt? Da muß ich doch wissen, was ich                ihm für eine Antwort soll geben.</p><lb/>
        <p>Josseph schloß den Kasten auf; er that es mit jener stillen Ergebenheit in den Willen                einer Sterbenden, für die man einen Stern vom Himmel herunterreißen würde. Er war                überzeugt, daß er nichts finden würde. Die Sterbekleider fand er wohl am bezeichneten                Orte, auch konnte er mit einer gewissen freudigen Traurigkeit bemerken, wie sie in                schöner Ordnung aufgeschichtet in der Schublade lagen, aber von dem Nachlasse des                Urdede fand er keine Spur.</p><lb/>
        <p>Ich seh' nichts, Mamme, sagte er endlich nach langem Suchen.</p><lb/>
        <p>Es muß auf dem untersten Grund liegen, rief Marjim mit großer Bestimmtheit, gerade                unter den Tachrichim.</p><lb/>
        <p>Josseph erschrak fast, als er auf der angegebenen Stelle wirklich ein kleines                Bündelchen beschriebener Papiere fand. Er trat damit zum Lichte; der Moderduft der                Verwitterung wehte ihn daraus an. Nur mit äußerster Vorsicht konnte er die fast schon                ganz zerfallenen Blätter von einander lösen; die wenigen, die sich unversehrt                erhalten hatten, waren mit jüdischer Kleinschrift bedeckt, wie man sich deren im                gewöhnlichen Leben bedient, aber selbst aus diesen waren viele Stellen ganz                unleserlich und die Tinte ganz verblaßt worden.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] Marjim, was hast du denn von mir aufbewahrt gehabt? Da muß ich doch wissen, was ich ihm für eine Antwort soll geben. Josseph schloß den Kasten auf; er that es mit jener stillen Ergebenheit in den Willen einer Sterbenden, für die man einen Stern vom Himmel herunterreißen würde. Er war überzeugt, daß er nichts finden würde. Die Sterbekleider fand er wohl am bezeichneten Orte, auch konnte er mit einer gewissen freudigen Traurigkeit bemerken, wie sie in schöner Ordnung aufgeschichtet in der Schublade lagen, aber von dem Nachlasse des Urdede fand er keine Spur. Ich seh' nichts, Mamme, sagte er endlich nach langem Suchen. Es muß auf dem untersten Grund liegen, rief Marjim mit großer Bestimmtheit, gerade unter den Tachrichim. Josseph erschrak fast, als er auf der angegebenen Stelle wirklich ein kleines Bündelchen beschriebener Papiere fand. Er trat damit zum Lichte; der Moderduft der Verwitterung wehte ihn daraus an. Nur mit äußerster Vorsicht konnte er die fast schon ganz zerfallenen Blätter von einander lösen; die wenigen, die sich unversehrt erhalten hatten, waren mit jüdischer Kleinschrift bedeckt, wie man sich deren im gewöhnlichen Leben bedient, aber selbst aus diesen waren viele Stellen ganz unleserlich und die Tinte ganz verblaßt worden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/180
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/180>, abgerufen am 23.11.2024.