Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Und jetzt, Fischele Leben, sprach sie zu ihrem Enkel, thu Krischme leinen (den Abendsegen beten) und geh in dein Kämmerl und leg dich schlafen. Morgen früh ist Donnerstag und übermorgen ist Freitag. -- Sie konnte nicht weiter sprechen, laut weinend küßte ihr der Knabe die blasse abgemagerte Hand. Die ahnungsvolle Seele des Kindes ging diesmal mit Todesschauern an das Nachtgebet und in den Schlaf. Als der Knabe sich entfernt hatte, entstand eine lange ungestörte Pause zwischen Mutter und Sohn. Josseph saß am Tische und starrte düster in das Kerzenlicht, allen Qualen des Augenblickes hingegeben. Alles, was seine Mutter ihm war, wie er sie so oft hart behandelt, gar nicht wie ein Sohn seine Mutter, ging jetzt an seinem Geiste vorüber. Was hatte er ihr für all ihr Lieben, Dulden und Bekümmern geboten? Josseph, rief Marjim plötzlich, komm' doch einmal her zu mir. Er folgte diesem Rufe und stellte sich schweigend an ihr Bett. Weißt du, Josseph, begann sie, ich kenn' dich seit einiger Zeit gar nicht mehr. Du gehst im Haus herum nicht anders, als hättest du einen Menschen draußen auf der Heerstraße erschlagen! Weißt du, daß mir das mein Herz stark beschwert macht? Ich mein' doch, in deinem Geschäft ist, Gott behüt', nichts vorgefallen, Und jetzt, Fischele Leben, sprach sie zu ihrem Enkel, thu Krischme leinen (den Abendsegen beten) und geh in dein Kämmerl und leg dich schlafen. Morgen früh ist Donnerstag und übermorgen ist Freitag. — Sie konnte nicht weiter sprechen, laut weinend küßte ihr der Knabe die blasse abgemagerte Hand. Die ahnungsvolle Seele des Kindes ging diesmal mit Todesschauern an das Nachtgebet und in den Schlaf. Als der Knabe sich entfernt hatte, entstand eine lange ungestörte Pause zwischen Mutter und Sohn. Josseph saß am Tische und starrte düster in das Kerzenlicht, allen Qualen des Augenblickes hingegeben. Alles, was seine Mutter ihm war, wie er sie so oft hart behandelt, gar nicht wie ein Sohn seine Mutter, ging jetzt an seinem Geiste vorüber. Was hatte er ihr für all ihr Lieben, Dulden und Bekümmern geboten? Josseph, rief Marjim plötzlich, komm' doch einmal her zu mir. Er folgte diesem Rufe und stellte sich schweigend an ihr Bett. Weißt du, Josseph, begann sie, ich kenn' dich seit einiger Zeit gar nicht mehr. Du gehst im Haus herum nicht anders, als hättest du einen Menschen draußen auf der Heerstraße erschlagen! Weißt du, daß mir das mein Herz stark beschwert macht? Ich mein' doch, in deinem Geschäft ist, Gott behüt', nichts vorgefallen, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="12"> <pb facs="#f0175"/> <p>Und jetzt, Fischele Leben, sprach sie zu ihrem Enkel, thu Krischme leinen (den Abendsegen beten) und geh in dein Kämmerl und leg dich schlafen. Morgen früh ist Donnerstag und übermorgen ist Freitag. —</p><lb/> <p>Sie konnte nicht weiter sprechen, laut weinend küßte ihr der Knabe die blasse abgemagerte Hand. Die ahnungsvolle Seele des Kindes ging diesmal mit Todesschauern an das Nachtgebet und in den Schlaf.</p><lb/> <p>Als der Knabe sich entfernt hatte, entstand eine lange ungestörte Pause zwischen Mutter und Sohn.</p><lb/> <p>Josseph saß am Tische und starrte düster in das Kerzenlicht, allen Qualen des Augenblickes hingegeben. Alles, was seine Mutter ihm war, wie er sie so oft hart behandelt, gar nicht wie ein Sohn seine Mutter, ging jetzt an seinem Geiste vorüber. Was hatte er ihr für all ihr Lieben, Dulden und Bekümmern geboten?</p><lb/> <p>Josseph, rief Marjim plötzlich, komm' doch einmal her zu mir.</p><lb/> <p>Er folgte diesem Rufe und stellte sich schweigend an ihr Bett.</p><lb/> <p>Weißt du, Josseph, begann sie, ich kenn' dich seit einiger Zeit gar nicht mehr. Du gehst im Haus herum nicht anders, als hättest du einen Menschen draußen auf der Heerstraße erschlagen! Weißt du, daß mir das mein Herz stark beschwert macht? Ich mein' doch, in deinem Geschäft ist, Gott behüt', nichts vorgefallen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0175]
Und jetzt, Fischele Leben, sprach sie zu ihrem Enkel, thu Krischme leinen (den Abendsegen beten) und geh in dein Kämmerl und leg dich schlafen. Morgen früh ist Donnerstag und übermorgen ist Freitag. —
Sie konnte nicht weiter sprechen, laut weinend küßte ihr der Knabe die blasse abgemagerte Hand. Die ahnungsvolle Seele des Kindes ging diesmal mit Todesschauern an das Nachtgebet und in den Schlaf.
Als der Knabe sich entfernt hatte, entstand eine lange ungestörte Pause zwischen Mutter und Sohn.
Josseph saß am Tische und starrte düster in das Kerzenlicht, allen Qualen des Augenblickes hingegeben. Alles, was seine Mutter ihm war, wie er sie so oft hart behandelt, gar nicht wie ein Sohn seine Mutter, ging jetzt an seinem Geiste vorüber. Was hatte er ihr für all ihr Lieben, Dulden und Bekümmern geboten?
Josseph, rief Marjim plötzlich, komm' doch einmal her zu mir.
Er folgte diesem Rufe und stellte sich schweigend an ihr Bett.
Weißt du, Josseph, begann sie, ich kenn' dich seit einiger Zeit gar nicht mehr. Du gehst im Haus herum nicht anders, als hättest du einen Menschen draußen auf der Heerstraße erschlagen! Weißt du, daß mir das mein Herz stark beschwert macht? Ich mein' doch, in deinem Geschäft ist, Gott behüt', nichts vorgefallen,
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/175>, abgerufen am 23.06.2024. |