Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.das wimmernd vor ihm im Staube lag, er konnte ihr nicht helfen, denn ihn selbst hätte in diesem Augenblick ein Kind umwerfen können, so vernichtet war sein eigenes Wesen. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn allmählich; er fühlte, wie das Blut immer wärmer wurde in ihm; wie die Lebenskräfte zurückkehrten. Anezka, rief er leise, so erzähl doch, wie bist jetzt auf einmal hergekommen? Die Magd richtete sich auf den Knieen vom Boden auf. Josseph erschrak über den furchtbaren Anblick, der sich ihm in dem mattbeleuchteten Antlitz des Mädchens darbot. Es war das einer Todten, die vor dem letzten Athemzug noch irgend ein schweres Leid durchgekämpft hat. Das Kopftuch war zurückgefallen, die schwarzen Haare lagen über der bleichen hohen Stirne. Anezka, sagte der tieferschütterte Mann, was machst du? Wie kommst du her? Bist du krank gewesen? Keine Antwort. Noch einmal mußte Josseph mit den lindesten Tönen einer erbarmungsvollen Seele seine Fragen an die Unglückliche richten, bis sie endlich aus ihrem Schmerz zu einem verständigen Worte sich ermannen konnte. Redet nur nicht mit mir, rief sie schluchzend, ich bin nicht werth, daß Ihr mich anspeit, redet nicht mit mir! Red, Anezka, sagte Josseph sanft, was ist dir? das wimmernd vor ihm im Staube lag, er konnte ihr nicht helfen, denn ihn selbst hätte in diesem Augenblick ein Kind umwerfen können, so vernichtet war sein eigenes Wesen. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn allmählich; er fühlte, wie das Blut immer wärmer wurde in ihm; wie die Lebenskräfte zurückkehrten. Anezka, rief er leise, so erzähl doch, wie bist jetzt auf einmal hergekommen? Die Magd richtete sich auf den Knieen vom Boden auf. Josseph erschrak über den furchtbaren Anblick, der sich ihm in dem mattbeleuchteten Antlitz des Mädchens darbot. Es war das einer Todten, die vor dem letzten Athemzug noch irgend ein schweres Leid durchgekämpft hat. Das Kopftuch war zurückgefallen, die schwarzen Haare lagen über der bleichen hohen Stirne. Anezka, sagte der tieferschütterte Mann, was machst du? Wie kommst du her? Bist du krank gewesen? Keine Antwort. Noch einmal mußte Josseph mit den lindesten Tönen einer erbarmungsvollen Seele seine Fragen an die Unglückliche richten, bis sie endlich aus ihrem Schmerz zu einem verständigen Worte sich ermannen konnte. Redet nur nicht mit mir, rief sie schluchzend, ich bin nicht werth, daß Ihr mich anspeit, redet nicht mit mir! Red, Anezka, sagte Josseph sanft, was ist dir? <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="11"> <p><pb facs="#f0154"/> das wimmernd vor ihm im Staube lag, er konnte ihr nicht helfen, denn ihn selbst hätte in diesem Augenblick ein Kind umwerfen können, so vernichtet war sein eigenes Wesen. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn allmählich; er fühlte, wie das Blut immer wärmer wurde in ihm; wie die Lebenskräfte zurückkehrten.</p><lb/> <p>Anezka, rief er leise, so erzähl doch, wie bist jetzt auf einmal hergekommen?</p><lb/> <p>Die Magd richtete sich auf den Knieen vom Boden auf. Josseph erschrak über den furchtbaren Anblick, der sich ihm in dem mattbeleuchteten Antlitz des Mädchens darbot. Es war das einer Todten, die vor dem letzten Athemzug noch irgend ein schweres Leid durchgekämpft hat. Das Kopftuch war zurückgefallen, die schwarzen Haare lagen über der bleichen hohen Stirne.</p><lb/> <p>Anezka, sagte der tieferschütterte Mann, was machst du? Wie kommst du her? Bist du krank gewesen?</p><lb/> <p>Keine Antwort.</p><lb/> <p>Noch einmal mußte Josseph mit den lindesten Tönen einer erbarmungsvollen Seele seine Fragen an die Unglückliche richten, bis sie endlich aus ihrem Schmerz zu einem verständigen Worte sich ermannen konnte.</p><lb/> <p>Redet nur nicht mit mir, rief sie schluchzend, ich bin nicht werth, daß Ihr mich anspeit, redet nicht mit mir!</p><lb/> <p>Red, Anezka, sagte Josseph sanft, was ist dir?<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0154]
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Anezka, rief er leise, so erzähl doch, wie bist jetzt auf einmal hergekommen?
Die Magd richtete sich auf den Knieen vom Boden auf. Josseph erschrak über den furchtbaren Anblick, der sich ihm in dem mattbeleuchteten Antlitz des Mädchens darbot. Es war das einer Todten, die vor dem letzten Athemzug noch irgend ein schweres Leid durchgekämpft hat. Das Kopftuch war zurückgefallen, die schwarzen Haare lagen über der bleichen hohen Stirne.
Anezka, sagte der tieferschütterte Mann, was machst du? Wie kommst du her? Bist du krank gewesen?
Keine Antwort.
Noch einmal mußte Josseph mit den lindesten Tönen einer erbarmungsvollen Seele seine Fragen an die Unglückliche richten, bis sie endlich aus ihrem Schmerz zu einem verständigen Worte sich ermannen konnte.
Redet nur nicht mit mir, rief sie schluchzend, ich bin nicht werth, daß Ihr mich anspeit, redet nicht mit mir!
Red, Anezka, sagte Josseph sanft, was ist dir?
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/154>, abgerufen am 23.06.2024. |