Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Fertig glaubte er geworden zu sein mit ihr, und nun brachte jedes höher sich schwingende Weihrauchwölkchen, das aus den Rauchfässern der Knaben aufwirbelte, jeder verirrte Laut, jedes Flattern der in den Lüften wallenden Kirchenfahnen Sturm in sein Blut, machte seine Faust sich ballen und sein Auge funkeln! Der Heilige, dem all diese Feier galt, all diese Ehre entgegenging, St. Johann von Nepomuk vergällte ihm nicht die Stunde, aber was wollte Madlena dabei? dachte er bei sich. War St. Johann von Nepomuk für sie von der Prager Brücke in die Moldau geworfen worden? Gehörte sie zu ihm? Und mußte sie gerade mit der Procession an seinem Fenster vorübergehen? Gab es keine andere Art, als "Getaufte" zu erscheinen, als Mutter und Bruder offen vor aller Welt Hohn zu sprechen? Darum war das heurige Johannifest einer der trübsten Tage seines Lebens. Nichts geschah im Hause recht, Alles strebte ihm entgegen, um ihm sein Dasein zu verkümmern. Die forschenden Augen der alten Mutter lagen oft minutenlang auf ihm, mit tausend Ohren vernahm er die unausgesprochene Frage: was ihm denn wieder fehle, ob er denn noch nicht fertig geworden? Manches harte Wort ließ er gegen die treue siebenzigjährige Frau fallen, deren einziges Vergehen darin bestand, daß ihn ihre Augen zu fragen schienen. Um Allem zu entgehen, schützte er am Nach- Fertig glaubte er geworden zu sein mit ihr, und nun brachte jedes höher sich schwingende Weihrauchwölkchen, das aus den Rauchfässern der Knaben aufwirbelte, jeder verirrte Laut, jedes Flattern der in den Lüften wallenden Kirchenfahnen Sturm in sein Blut, machte seine Faust sich ballen und sein Auge funkeln! Der Heilige, dem all diese Feier galt, all diese Ehre entgegenging, St. Johann von Nepomuk vergällte ihm nicht die Stunde, aber was wollte Madlena dabei? dachte er bei sich. War St. Johann von Nepomuk für sie von der Prager Brücke in die Moldau geworfen worden? Gehörte sie zu ihm? Und mußte sie gerade mit der Procession an seinem Fenster vorübergehen? Gab es keine andere Art, als „Getaufte“ zu erscheinen, als Mutter und Bruder offen vor aller Welt Hohn zu sprechen? Darum war das heurige Johannifest einer der trübsten Tage seines Lebens. Nichts geschah im Hause recht, Alles strebte ihm entgegen, um ihm sein Dasein zu verkümmern. Die forschenden Augen der alten Mutter lagen oft minutenlang auf ihm, mit tausend Ohren vernahm er die unausgesprochene Frage: was ihm denn wieder fehle, ob er denn noch nicht fertig geworden? Manches harte Wort ließ er gegen die treue siebenzigjährige Frau fallen, deren einziges Vergehen darin bestand, daß ihn ihre Augen zu fragen schienen. Um Allem zu entgehen, schützte er am Nach- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="10"> <pb facs="#f0141"/> <p>Fertig glaubte er geworden zu sein mit ihr, und nun brachte jedes höher sich schwingende Weihrauchwölkchen, das aus den Rauchfässern der Knaben aufwirbelte, jeder verirrte Laut, jedes Flattern der in den Lüften wallenden Kirchenfahnen Sturm in sein Blut, machte seine Faust sich ballen und sein Auge funkeln!</p><lb/> <p>Der Heilige, dem all diese Feier galt, all diese Ehre entgegenging, St. Johann von Nepomuk vergällte ihm nicht die Stunde, aber was wollte Madlena dabei? dachte er bei sich. War St. Johann von Nepomuk für sie von der Prager Brücke in die Moldau geworfen worden? Gehörte sie zu ihm? Und mußte sie gerade mit der Procession an seinem Fenster vorübergehen? Gab es keine andere Art, als „Getaufte“ zu erscheinen, als Mutter und Bruder offen vor aller Welt Hohn zu sprechen?</p><lb/> <p>Darum war das heurige Johannifest einer der trübsten Tage seines Lebens. Nichts geschah im Hause recht, Alles strebte ihm entgegen, um ihm sein Dasein zu verkümmern. Die forschenden Augen der alten Mutter lagen oft minutenlang auf ihm, mit tausend Ohren vernahm er die unausgesprochene Frage: was ihm denn wieder fehle, ob er denn noch nicht fertig geworden? Manches harte Wort ließ er gegen die treue siebenzigjährige Frau fallen, deren einziges Vergehen darin bestand, daß ihn ihre Augen zu fragen schienen. Um Allem zu entgehen, schützte er am Nach-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0141]
Fertig glaubte er geworden zu sein mit ihr, und nun brachte jedes höher sich schwingende Weihrauchwölkchen, das aus den Rauchfässern der Knaben aufwirbelte, jeder verirrte Laut, jedes Flattern der in den Lüften wallenden Kirchenfahnen Sturm in sein Blut, machte seine Faust sich ballen und sein Auge funkeln!
Der Heilige, dem all diese Feier galt, all diese Ehre entgegenging, St. Johann von Nepomuk vergällte ihm nicht die Stunde, aber was wollte Madlena dabei? dachte er bei sich. War St. Johann von Nepomuk für sie von der Prager Brücke in die Moldau geworfen worden? Gehörte sie zu ihm? Und mußte sie gerade mit der Procession an seinem Fenster vorübergehen? Gab es keine andere Art, als „Getaufte“ zu erscheinen, als Mutter und Bruder offen vor aller Welt Hohn zu sprechen?
Darum war das heurige Johannifest einer der trübsten Tage seines Lebens. Nichts geschah im Hause recht, Alles strebte ihm entgegen, um ihm sein Dasein zu verkümmern. Die forschenden Augen der alten Mutter lagen oft minutenlang auf ihm, mit tausend Ohren vernahm er die unausgesprochene Frage: was ihm denn wieder fehle, ob er denn noch nicht fertig geworden? Manches harte Wort ließ er gegen die treue siebenzigjährige Frau fallen, deren einziges Vergehen darin bestand, daß ihn ihre Augen zu fragen schienen. Um Allem zu entgehen, schützte er am Nach-
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