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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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schwänzelnde Schwalben kommen bisweilen herbei, streifen auch mit ihren Flügeln zuweilen an den Fenstern vorüber, aus denen Niemand herausschaut, aber sie verweilen nicht lange und ziehen zu der Pfarrei hin, wo sie Gesellschaft und Conversation finden. Hier aber ist Alles still und unthätig, keine Hand regt sich und kein Ohr lauscht, daß es vernehmen könnte, was die Vögel des Himmels von ihrem Dasein im Reiche der freien Lüfte erzählen.

Wunderbare Gegensätze! Morgen um dieselbe Stunde werden die schwarzen Läden jener verschlossenen Gewölbethür weit offen stehen, und das Aushängeschild wird wieder etwas zu bedeuten haben. Zu den hellen hohen Fenstern werden scharfe Augen hervorlugen, wer die Straße daherkömmt. Wenn dann die Bachstelzen und die Schwalben sehen werden, wie viel Menschen da aus- und eingehen, werden sie vielleicht auch nicht zögern, dem Zuge sich anschließen und gleichfalls kommen. Dann wird der zauberhafte Bann gelös't sein, der jetzt über diesem Hause liegt -- und wird über andere Häuser sich gelagert haben. Denn der Tag des Herrn kehrt nicht zu gleicher Zeit bei den Menschen ein. Wie sprechen sie doch Alle von Verständigung zwischen Völkern und Fürsten, von Harmonie der Geister und des Wissens! Aber haben sie es noch erreicht, daß, wenn zwei Hände, die das Gottesgebot der Unthätigkeit feiern wollen, schlaff herunter hängen, nicht tausend Andere den schweren Hammer auf den Amboß

schwänzelnde Schwalben kommen bisweilen herbei, streifen auch mit ihren Flügeln zuweilen an den Fenstern vorüber, aus denen Niemand herausschaut, aber sie verweilen nicht lange und ziehen zu der Pfarrei hin, wo sie Gesellschaft und Conversation finden. Hier aber ist Alles still und unthätig, keine Hand regt sich und kein Ohr lauscht, daß es vernehmen könnte, was die Vögel des Himmels von ihrem Dasein im Reiche der freien Lüfte erzählen.

Wunderbare Gegensätze! Morgen um dieselbe Stunde werden die schwarzen Läden jener verschlossenen Gewölbethür weit offen stehen, und das Aushängeschild wird wieder etwas zu bedeuten haben. Zu den hellen hohen Fenstern werden scharfe Augen hervorlugen, wer die Straße daherkömmt. Wenn dann die Bachstelzen und die Schwalben sehen werden, wie viel Menschen da aus- und eingehen, werden sie vielleicht auch nicht zögern, dem Zuge sich anschließen und gleichfalls kommen. Dann wird der zauberhafte Bann gelös't sein, der jetzt über diesem Hause liegt — und wird über andere Häuser sich gelagert haben. Denn der Tag des Herrn kehrt nicht zu gleicher Zeit bei den Menschen ein. Wie sprechen sie doch Alle von Verständigung zwischen Völkern und Fürsten, von Harmonie der Geister und des Wissens! Aber haben sie es noch erreicht, daß, wenn zwei Hände, die das Gottesgebot der Unthätigkeit feiern wollen, schlaff herunter hängen, nicht tausend Andere den schweren Hammer auf den Amboß

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/10>, abgerufen am 03.05.2024.