Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949. pko_005.001 ALLGEMEINER TEIL. pko_005.002 pko_005.011 pko_005.018 1) pko_005.032 von lat. poetica, griech. poietike. 2) pko_005.033
Das expressive Element der Sprache ist dasjenige an ihr, was auch ohne Kenntnis pko_005.034 der signifikativen Konventionen (d. h. des Vokabulars und der Grammatik) pko_005.035 "verstanden" werden kann; so "versteht" das sprachlose Tier den sprechenden pko_005.036 Menschen, indem es aus dem Tonfall den gemeinten Ausdruck heraushört, pko_005.037 so der Mensch gewisse Gefühlsäußerungen noch in einer ihm fremden Sprache; pko_005.038 daher man den Gemütsgehalt auch gedanklich unbegriffener Gedichte "verstehen" pko_005.039 und genießen kann. pko_005.001 ALLGEMEINER TEIL. pko_005.002 pko_005.011 pko_005.018 1) pko_005.032 von lat. poética, griech. poietiké. 2) pko_005.033
Das expressive Element der Sprache ist dasjenige an ihr, was auch ohne Kenntnis pko_005.034 der signifikativen Konventionen (d. h. des Vokabulars und der Grammatik) pko_005.035 „verstanden“ werden kann; so „versteht“ das sprachlose Tier den sprechenden pko_005.036 Menschen, indem es aus dem Tonfall den gemeinten Ausdruck heraushört, pko_005.037 so der Mensch gewisse Gefühlsäußerungen noch in einer ihm fremden Sprache; pko_005.038 daher man den Gemütsgehalt auch gedanklich unbegriffener Gedichte „verstehen“ pko_005.039 und genießen kann. <TEI> <text> <front> <pb facs="#f0009" n="5"/> </front> <body> <div n="1"> <div n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <lb n="pko_005.001"/> <hi rendition="#g">ALLGEMEINER TEIL.</hi> </hi> </head> <p><lb n="pko_005.002"/> Poetik<note xml:id="PKO_005_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_005.032"/> von lat. poética, griech. poietiké.</note> bedeutet <hi rendition="#i">Dichtungslehre.</hi> Das wurde in früheren Jahrhunderten, <lb n="pko_005.003"/> solange die gesamte geistige Kultur gelehrten Charakter trug <lb n="pko_005.004"/> (vom Humanismus bis zur Aufklärung), als Lehre <hi rendition="#i">der</hi> Dichtkunst, als <lb n="pko_005.005"/> praktische Anweisung für den <hi rendition="#i">Dichter</hi> verstanden, dem sie die Regeln <lb n="pko_005.006"/> der Kunstübung <hi rendition="#i">vorschreiben</hi> sollte; seitdem der moderne Geniebegriff <lb n="pko_005.007"/> die Überzeugung durchgesetzt hat, daß jegliche Kunst unmittelbarer <lb n="pko_005.008"/> Ausdruck urwüchsiger Begabung und daher nicht lehr- und lernbar sei, <lb n="pko_005.009"/> versteht man Poetik als Lehre <hi rendition="#i">von der</hi> Dichtkunst, die deren Erscheinungsformen <lb n="pko_005.010"/> <hi rendition="#i">beschreiben</hi> soll.</p> <p><lb n="pko_005.011"/> Wenn <hi rendition="#i">Kunst</hi> überhaupt darin west, innere Erlebnisse zu sinnlich erfahrbarem <lb n="pko_005.012"/> Ausdruck zu bringen, so macht es das besondere Wesen der <lb n="pko_005.013"/> Dichtung, daß ihr Ausdrucksmittel die <hi rendition="#i">Sprache</hi> ist; sie stellt sich vorzüglich <lb n="pko_005.014"/> dar als Sprachkunst, als <hi rendition="#i">Wortkunst.</hi> Indem aber die Sprache zugleich <lb n="pko_005.015"/> ein unentbehrliches Werkzeug des praktischen Lebens, nämlich kunstindifferentes <lb n="pko_005.016"/> Verständigungsmittel des Alltags ist, bedarf es strengerer <lb n="pko_005.017"/> Scheidung zwischen dem Sprachbegriff der Poesie und dem der Praxis.</p> <p><lb n="pko_005.018"/> Alle Sprache, die der Dichtung wie die des Alltags, hat eine Innen- <lb n="pko_005.019"/> und eine Außenseite; sie ist nach Ursprung und Wirkung seelischgeistiges <lb n="pko_005.020"/> Phänomen, das aber in Erscheinung treten kann nur als akustisches <lb n="pko_005.021"/> Phänomen (oder als vermitteltes Zeichen eines solchen, als Schrift). <lb n="pko_005.022"/> Erst Laute, die etwas <hi rendition="#i">bedeuten,</hi> bilden Sprache; aber neben dieser mittelbaren, <lb n="pko_005.023"/> bedeutungshaften (sinn-darstellenden) Schicht eignet allen Sprachgebilden <lb n="pko_005.024"/> noch eine zweite Komponente: die Schicht unmittelbar kundgebenden <lb n="pko_005.025"/> Ausdrucks<note xml:id="PKO_005_2" place="foot" n="2)"><lb n="pko_005.033"/> Das expressive Element der Sprache ist dasjenige an ihr, was auch ohne Kenntnis <lb n="pko_005.034"/> der signifikativen Konventionen (d. h. des Vokabulars und der Grammatik) <lb n="pko_005.035"/> „verstanden“ werden kann; so „versteht“ das sprachlose Tier den sprechenden <lb n="pko_005.036"/> Menschen, indem es aus dem Tonfall den gemeinten Ausdruck heraushört, <lb n="pko_005.037"/> so der Mensch gewisse Gefühlsäußerungen noch in einer ihm fremden Sprache; <lb n="pko_005.038"/> daher man den Gemütsgehalt auch gedanklich unbegriffener Gedichte „verstehen“ <lb n="pko_005.039"/> und genießen kann.</note> . In jedem Schelt- oder Kosewort verstärkt <lb n="pko_005.026"/> oder verändert sich der konventionelle Bedeutungsinhalt der Vokabel <lb n="pko_005.027"/> durch die besondere Gefühlsbetontheit, mit der sie verlautbart wird. Die <lb n="pko_005.028"/> Alltagsrede macht den Klang nur in der unbewußten Steigerung des <lb n="pko_005.029"/> Affekts zum Sinnträger ihres Gehalts; künstlerische Sprache aber ist <lb n="pko_005.030"/> gerade gekennzeichnet durch dauernden Wechselbezug der beiden Schichten, <lb n="pko_005.031"/> sie macht, indem sie die gemeinten Gegenstandsvorstellungen zugleich </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0009]
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ALLGEMEINER TEIL. pko_005.002
Poetik 1) bedeutet Dichtungslehre. Das wurde in früheren Jahrhunderten, pko_005.003
solange die gesamte geistige Kultur gelehrten Charakter trug pko_005.004
(vom Humanismus bis zur Aufklärung), als Lehre der Dichtkunst, als pko_005.005
praktische Anweisung für den Dichter verstanden, dem sie die Regeln pko_005.006
der Kunstübung vorschreiben sollte; seitdem der moderne Geniebegriff pko_005.007
die Überzeugung durchgesetzt hat, daß jegliche Kunst unmittelbarer pko_005.008
Ausdruck urwüchsiger Begabung und daher nicht lehr- und lernbar sei, pko_005.009
versteht man Poetik als Lehre von der Dichtkunst, die deren Erscheinungsformen pko_005.010
beschreiben soll.
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Wenn Kunst überhaupt darin west, innere Erlebnisse zu sinnlich erfahrbarem pko_005.012
Ausdruck zu bringen, so macht es das besondere Wesen der pko_005.013
Dichtung, daß ihr Ausdrucksmittel die Sprache ist; sie stellt sich vorzüglich pko_005.014
dar als Sprachkunst, als Wortkunst. Indem aber die Sprache zugleich pko_005.015
ein unentbehrliches Werkzeug des praktischen Lebens, nämlich kunstindifferentes pko_005.016
Verständigungsmittel des Alltags ist, bedarf es strengerer pko_005.017
Scheidung zwischen dem Sprachbegriff der Poesie und dem der Praxis.
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Alle Sprache, die der Dichtung wie die des Alltags, hat eine Innen- pko_005.019
und eine Außenseite; sie ist nach Ursprung und Wirkung seelischgeistiges pko_005.020
Phänomen, das aber in Erscheinung treten kann nur als akustisches pko_005.021
Phänomen (oder als vermitteltes Zeichen eines solchen, als Schrift). pko_005.022
Erst Laute, die etwas bedeuten, bilden Sprache; aber neben dieser mittelbaren, pko_005.023
bedeutungshaften (sinn-darstellenden) Schicht eignet allen Sprachgebilden pko_005.024
noch eine zweite Komponente: die Schicht unmittelbar kundgebenden pko_005.025
Ausdrucks 2) . In jedem Schelt- oder Kosewort verstärkt pko_005.026
oder verändert sich der konventionelle Bedeutungsinhalt der Vokabel pko_005.027
durch die besondere Gefühlsbetontheit, mit der sie verlautbart wird. Die pko_005.028
Alltagsrede macht den Klang nur in der unbewußten Steigerung des pko_005.029
Affekts zum Sinnträger ihres Gehalts; künstlerische Sprache aber ist pko_005.030
gerade gekennzeichnet durch dauernden Wechselbezug der beiden Schichten, pko_005.031
sie macht, indem sie die gemeinten Gegenstandsvorstellungen zugleich
1) pko_005.032
von lat. poética, griech. poietiké.
2) pko_005.033
Das expressive Element der Sprache ist dasjenige an ihr, was auch ohne Kenntnis pko_005.034
der signifikativen Konventionen (d. h. des Vokabulars und der Grammatik) pko_005.035
„verstanden“ werden kann; so „versteht“ das sprachlose Tier den sprechenden pko_005.036
Menschen, indem es aus dem Tonfall den gemeinten Ausdruck heraushört, pko_005.037
so der Mensch gewisse Gefühlsäußerungen noch in einer ihm fremden Sprache; pko_005.038
daher man den Gemütsgehalt auch gedanklich unbegriffener Gedichte „verstehen“ pko_005.039
und genießen kann.
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/9>, abgerufen am 16.02.2025. |