deutet werden? Da er viele Länder durchreiset, und zwar in den Tagen, wo er so ganz die Fülle des Lebens genoß, so kannte er die Menschen aus Erfahrung, aus Beispielen. Seine Jmagina- zion schuf sich ein Jdeal menschlicher Vollkom- menheit, so wie es die Jdee des Grossen und Edlen sich bilden konnte. Er durchstreifte Land und Meer, und fand einst einen Menschen, in dem er alles das zu finden glaubte, was er bisher vergebens gesucht hatte. Er nannte sich einen Unglüklichen, der einst reich und glüklich, und durch harte Menschen so arm und elend gewor- den war, daß er das Mitleid seiner Brüder er- flehen müste. -- Dis war genug für einen Pha- nor, dessen Herz sich nie gegen das Elend seiner Brüder verschloß, der es nicht bloß empfand, sondern auch die Quelle zu verstopfen suchte, dar- aus es seinen Ursprung nahm, Er nahm sich des Mannes redlich an, kleidete ihn, und gab ihm Narung und Unterhalt. Kein Vergnügen genoß er ohne ihn, und oft überraschte er ihn mit einer neuen Art von Grosmut, die sich auch dem Dank entzieht, und nur darin ihr Vergnü- gen sezt, Züge der heitersten Freude hervor zu rufen. Wenn ein Edler bei Ausspendung seiner
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deutet werden? Da er viele Laͤnder durchreiſet, und zwar in den Tagen, wo er ſo ganz die Fuͤlle des Lebens genoß, ſo kannte er die Menſchen aus Erfahrung, aus Beiſpielen. Seine Jmagina- zion ſchuf ſich ein Jdeal menſchlicher Vollkom- menheit, ſo wie es die Jdee des Groſſen und Edlen ſich bilden konnte. Er durchſtreifte Land und Meer, und fand einſt einen Menſchen, in dem er alles das zu finden glaubte, was er bisher vergebens geſucht hatte. Er nannte ſich einen Ungluͤklichen, der einſt reich und gluͤklich, und durch harte Menſchen ſo arm und elend gewor- den war, daß er das Mitleid ſeiner Bruͤder er- flehen muͤſte. — Dis war genug fuͤr einen Pha- nor, deſſen Herz ſich nie gegen das Elend ſeiner Bruͤder verſchloß, der es nicht bloß empfand, ſondern auch die Quelle zu verſtopfen ſuchte, dar- aus es ſeinen Urſprung nahm, Er nahm ſich des Mannes redlich an, kleidete ihn, und gab ihm Narung und Unterhalt. Kein Vergnuͤgen genoß er ohne ihn, und oft uͤberraſchte er ihn mit einer neuen Art von Grosmut, die ſich auch dem Dank entzieht, und nur darin ihr Vergnuͤ- gen ſezt, Zuͤge der heiterſten Freude hervor zu rufen. Wenn ein Edler bei Ausſpendung ſeiner
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deutet werden? Da er viele Laͤnder durchreiſet,
und zwar in den Tagen, wo er ſo ganz die Fuͤlle
des Lebens genoß, ſo kannte er die Menſchen
aus Erfahrung, aus Beiſpielen. Seine Jmagina-
zion ſchuf ſich ein Jdeal menſchlicher Vollkom-
menheit, ſo wie es die Jdee des Groſſen und
Edlen ſich bilden konnte. Er durchſtreifte Land
und Meer, und fand einſt einen Menſchen, in
dem er alles das zu finden glaubte, was er bisher
vergebens geſucht hatte. Er nannte ſich einen
Ungluͤklichen, der einſt reich und gluͤklich, und
durch harte Menſchen ſo arm und elend gewor-
den war, daß er das Mitleid ſeiner Bruͤder er-
flehen muͤſte. — Dis war genug fuͤr einen Pha-
nor, deſſen Herz ſich nie gegen das Elend ſeiner
Bruͤder verſchloß, der es nicht bloß empfand,
ſondern auch die Quelle zu verſtopfen ſuchte, dar-
aus es ſeinen Urſprung nahm, Er nahm ſich
des Mannes redlich an, kleidete ihn, und gab
ihm Narung und Unterhalt. Kein Vergnuͤgen
genoß er ohne ihn, und oft uͤberraſchte er ihn
mit einer neuen Art von Grosmut, die ſich auch
dem Dank entzieht, und nur darin ihr Vergnuͤ-
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rufen. Wenn ein Edler bei Ausſpendung ſeiner
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/267>, abgerufen am 25.11.2024.
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