schaften und Trieben nach Zeit und Gelegenheit befriedigen könnten; Andre hingegen lehren grade das Gegentheil, und beschreiben mit den reizendsten Farben die Beständigkeit, die In¬ nigkeit und das Feuer eines weiblichen, von Liebe erfüllten Herzens. Jene eignen dem Geschlechte viel mehr Sinnlichkeit und Reiz¬ barkeit als edlere Gefühle zu, und sagen, es sey nur Grimmasse, wenn Weiber ihre Männer glauben machten, sie hätten ein sehr kaltes Temperament; Diese hingegen behaupten: die reinste, heiligste Liebe, ohne Begehren, ja! auf gewisse Art ohne Leidenschaft, diese göttli¬ che Flamme, könne nur in weiblichen Seelen in ihrer ganzen Fülle wohnen. Wer von bey¬ den Partheyen Recht hat, das mögen Diejeni¬ gen entscheiden, denen eine größere Kenntniß des weiblichen Herzens, -- obgleich ich in dem Umgange mit Frauenzimmern viel Jahre hin¬ durch kein unaufmerksamer Beobachter gewe¬ sen bin -- Diejenigen, sage ich, mögen das entscheiden, denen diese größere Kenntniß, ein reiferes Alter und feinere Welt-Erfahrung ein Recht geben, über den Character der Weiber kühler, unpartheyischer, mit mehr Scharfsinn
und
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ſchaften und Trieben nach Zeit und Gelegenheit befriedigen koͤnnten; Andre hingegen lehren grade das Gegentheil, und beſchreiben mit den reizendſten Farben die Beſtaͤndigkeit, die In¬ nigkeit und das Feuer eines weiblichen, von Liebe erfuͤllten Herzens. Jene eignen dem Geſchlechte viel mehr Sinnlichkeit und Reiz¬ barkeit als edlere Gefuͤhle zu, und ſagen, es ſey nur Grimmaſſe, wenn Weiber ihre Maͤnner glauben machten, ſie haͤtten ein ſehr kaltes Temperament; Dieſe hingegen behaupten: die reinſte, heiligſte Liebe, ohne Begehren, ja! auf gewiſſe Art ohne Leidenſchaft, dieſe goͤttli¬ che Flamme, koͤnne nur in weiblichen Seelen in ihrer ganzen Fuͤlle wohnen. Wer von bey¬ den Partheyen Recht hat, das moͤgen Diejeni¬ gen entſcheiden, denen eine groͤßere Kenntniß des weiblichen Herzens, — obgleich ich in dem Umgange mit Frauenzimmern viel Jahre hin¬ durch kein unaufmerkſamer Beobachter gewe¬ ſen bin — Diejenigen, ſage ich, moͤgen das entſcheiden, denen dieſe groͤßere Kenntniß, ein reiferes Alter und feinere Welt-Erfahrung ein Recht geben, uͤber den Character der Weiber kuͤhler, unpartheyiſcher, mit mehr Scharfſinn
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ſchaften und Trieben nach Zeit und Gelegenheit
befriedigen koͤnnten; Andre hingegen lehren
grade das Gegentheil, und beſchreiben mit den
reizendſten Farben die Beſtaͤndigkeit, die In¬
nigkeit und das Feuer eines weiblichen, von
Liebe erfuͤllten Herzens. Jene eignen dem
Geſchlechte viel mehr Sinnlichkeit und Reiz¬
barkeit als edlere Gefuͤhle zu, und ſagen, es ſey
nur Grimmaſſe, wenn Weiber ihre Maͤnner
glauben machten, ſie haͤtten ein ſehr kaltes
Temperament; Dieſe hingegen behaupten: die
reinſte, heiligſte Liebe, ohne Begehren, ja!
auf gewiſſe Art ohne Leidenſchaft, dieſe goͤttli¬
che Flamme, koͤnne nur in weiblichen Seelen
in ihrer ganzen Fuͤlle wohnen. Wer von bey¬
den Partheyen Recht hat, das moͤgen Diejeni¬
gen entſcheiden, denen eine groͤßere Kenntniß
des weiblichen Herzens, — obgleich ich in dem
Umgange mit Frauenzimmern viel Jahre hin¬
durch kein unaufmerkſamer Beobachter gewe¬
ſen bin — Diejenigen, ſage ich, moͤgen das
entſcheiden, denen dieſe groͤßere Kenntniß, ein
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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang01_1788/199>, abgerufen am 22.11.2024.
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