Klüber, Johann Ludwig: Europäisches Völkerrecht. Bd. 1. Stuttgart, 1821.I. Cap. Recht der Selbsterhaltung. Verpflichteten höher ist als jede andere, so kannals Rechtsverletzung nicht geahndet werden, wenn bei evidenter, dringender Noth des Staa- tes, in dem Fall unvermeidlicher Collision zwi- schen vollkommenen Pflichten gegen andere Staaten und seiner Selbsterhaltung (status gen- tis extraordinarius, casus extremae necessitatis), eine Staatsregierung, sich für entbunden haltend von dem strengen Rechtsgesetz, die letzte vor- zieht, und so von der Nothgunst (favor neces- sitatis, ratio status scil. extraordinarii, raison d'etat) Gebrauch macht a), die von einigen so- gar Nothrecht (jus necessitatis) genannt wird. Dieser Fall des Nothgebrauchs unterscheidet sich wesentlich von dem übel so benannten Conve- nienzRecht b), das auf blosse Vortheile oder Be- quemlichkeit gegründet wird. Nicht nur muss das Nothrecht mit äusserster Schonung ausge- übt werden, sondern es gebührt auch dem Staat, der darunter leidet, nach Möglichkeit Entschä- digung c). a) Vergl. W. G. Tafinger's Lehrsätze des Naturrechts, §. 37 -- 63. Fichte's Grundlage des Naturrechts, Th. II, S. 85 ff. Kant's metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung S. XLVIII. Klüber's öffentl. Recht des teutschen Bundes etc., §. 456. b) Moser's Beyträge zum europ. VR. in Friedenszeiten, Th. I, S. 5. c) Bynckershoek quaest. jur. publ. lib. II. c. 15. Klüeer a. a. O. §. 457. I. Cap. Recht der Selbsterhaltung. Verpflichteten höher ist als jede andere, so kannals Rechtsverletzung nicht geahndet werden, wenn bei evidenter, dringender Noth des Staa- tes, in dem Fall unvermeidlicher Collision zwi- schen vollkommenen Pflichten gegen andere Staaten und seiner Selbsterhaltung (status gen- tis extraordinarius, casus extremae necessitatis), eine Staatsregierung, sich für entbunden haltend von dem strengen Rechtsgesetz, die letzte vor- zieht, und so von der Nothgunst (favor neces- sitatis, ratio status scil. extraordinarii, raison d’état) Gebrauch macht a), die von einigen so- gar Nothrecht (jus necessitatis) genannt wird. Dieser Fall des Nothgebrauchs unterscheidet sich wesentlich von dem übel so benannten Conve- nienzRecht b), das auf bloſse Vortheile oder Be- quemlichkeit gegründet wird. Nicht nur muſs das Nothrecht mit äusserster Schonung ausge- übt werden, sondern es gebührt auch dem Staat, der darunter leidet, nach Möglichkeit Entschä- digung c). a) Vergl. W. G. Tafinger’s Lehrsätze des Naturrechts, §. 37 — 63. Fichte’s Grundlage des Naturrechts, Th. II, S. 85 ff. Kant’s metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung S. XLVIII. Klüber’s öffentl. Recht des teutschen Bundes etc., §. 456. b) Moser’s Beyträge zum europ. VR. in Friedenszeiten, Th. I, S. 5. c) Bynckershoek quaest. jur. publ. lib. II. c. 15. Klüeer a. a. O. §. 457. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0091" n="85"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#i">I. Cap. 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I. Cap. Recht der Selbsterhaltung.
Verpflichteten höher ist als jede andere, so kann
als Rechtsverletzung nicht geahndet werden,
wenn bei evidenter, dringender Noth des Staa-
tes, in dem Fall unvermeidlicher Collision zwi-
schen vollkommenen Pflichten gegen andere
Staaten und seiner Selbsterhaltung (status gen-
tis extraordinarius, casus extremae necessitatis),
eine Staatsregierung, sich für entbunden haltend
von dem strengen Rechtsgesetz, die letzte vor-
zieht, und so von der Nothgunst (favor neces-
sitatis, ratio status scil. extraordinarii, raison
d’état) Gebrauch macht a), die von einigen so-
gar Nothrecht (jus necessitatis) genannt wird.
Dieser Fall des Nothgebrauchs unterscheidet sich
wesentlich von dem übel so benannten Conve-
nienzRecht b), das auf bloſse Vortheile oder Be-
quemlichkeit gegründet wird. Nicht nur muſs
das Nothrecht mit äusserster Schonung ausge-
übt werden, sondern es gebührt auch dem Staat,
der darunter leidet, nach Möglichkeit Entschä-
digung c).
a⁾ Vergl. W. G. Tafinger’s Lehrsätze des Naturrechts, §. 37 —
63. Fichte’s Grundlage des Naturrechts, Th. II, S. 85 ff.
Kant’s metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung
S. XLVIII. Klüber’s öffentl. Recht des teutschen Bundes etc.,
§. 456.
b⁾ Moser’s Beyträge zum europ. VR. in Friedenszeiten, Th. I, S. 5.
c⁾ Bynckershoek quaest. jur. publ. lib. II. c. 15. Klüeer a. a. O.
§. 457.
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