[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773.Vom gleichen Verse. Selmer. Jch glaube nicht, daß der Erfinder des Hexa- meters an die Gleichzeitigkeit seiner Füsse gedacht hat. Sie wird nur von denen, und zwar nur einigermaßen gehört, welche die Anmerkung, daß sie da ist, gemacht haben. Was sagen Sie, Minna? scheinen Jhnen diese beyden Verse, die im Homer aufeinander folgen, gleichzeitig zu seyn: [Abbildung] Minna. Mir scheint der erste viel länger zu dauern, als der zweyte. Werthing. Aber bey Versen, die nicht so sehr contrasti- ren, als diese, ist die Gleichzeitigkeit merklicher. Selmer. Jch habe Jhnen schon zugestanden, daß diejeni- gen, welche die Anmerkung gemacht haben, die gleichen Zeiten einigermaßen hören können. Aber ich frage Sie: denken Sie daran, wenn Sie den Homer declamiren? Werthing. Das thu ich freylich nicht. Selmer. Ueberhaupt seh ich die Gleichzeitigkeit des Hexa- meters nur als eine Mannichfaltigkeit weniger an. Jch würde sie ein zu künstliches Ebenmaaß nennen, wenn sie merklicher wäre. Werthing. Nicht jede Mannichfaltigkeit ist eine Schönheit. Selmer. Aber diejenige, nach welcher die Verse ungleiche Zeiten haben, ist es deßwegen, weil sie etwas dazu beyträgt, daß der poetische Periode nicht immer in gleiche Absätze ge- theilt wird. Die Regel, daß der Künstler die Kunst verber- gen müsse, fodert hier die Verbindung der Aehnlichkeit mit der Gleichheit. Sonst muß ich von dieser Versart noch an- merken, daß sie durch ihren starken Rhythmus nahe ans Lyri- sche gränzt. Der
Vom gleichen Verſe. Selmer. Jch glaube nicht, daß der Erfinder des Hexa- meters an die Gleichzeitigkeit ſeiner Fuͤſſe gedacht hat. Sie wird nur von denen, und zwar nur einigermaßen gehoͤrt, welche die Anmerkung, daß ſie da iſt, gemacht haben. Was ſagen Sie, Minna? ſcheinen Jhnen dieſe beyden Verſe, die im Homer aufeinander folgen, gleichzeitig zu ſeyn: [Abbildung] Minna. Mir ſcheint der erſte viel laͤnger zu dauern, als der zweyte. Werthing. Aber bey Verſen, die nicht ſo ſehr contraſti- ren, als dieſe, iſt die Gleichzeitigkeit merklicher. Selmer. Jch habe Jhnen ſchon zugeſtanden, daß diejeni- gen, welche die Anmerkung gemacht haben, die gleichen Zeiten einigermaßen hoͤren koͤnnen. Aber ich frage Sie: denken Sie daran, wenn Sie den Homer declamiren? Werthing. Das thu ich freylich nicht. Selmer. Ueberhaupt ſeh ich die Gleichzeitigkeit des Hexa- meters nur als eine Mannichfaltigkeit weniger an. Jch wuͤrde ſie ein zu kuͤnſtliches Ebenmaaß nennen, wenn ſie merklicher waͤre. Werthing. Nicht jede Mannichfaltigkeit iſt eine Schoͤnheit. Selmer. Aber diejenige, nach welcher die Verſe ungleiche Zeiten haben, iſt es deßwegen, weil ſie etwas dazu beytraͤgt, daß der poetiſche Periode nicht immer in gleiche Abſaͤtze ge- theilt wird. Die Regel, daß der Kuͤnſtler die Kunſt verber- gen muͤſſe, fodert hier die Verbindung der Aehnlichkeit mit der Gleichheit. Sonſt muß ich von dieſer Versart noch an- merken, daß ſie durch ihren ſtarken Rhythmus nahe ans Lyri- ſche graͤnzt. Der
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Vom gleichen Verſe.
Selmer. Jch glaube nicht, daß der Erfinder des Hexa-
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wird nur von denen, und zwar nur einigermaßen gehoͤrt, welche
die Anmerkung, daß ſie da iſt, gemacht haben. Was ſagen Sie,
Minna? ſcheinen Jhnen dieſe beyden Verſe, die im Homer
aufeinander folgen, gleichzeitig zu ſeyn:
[Abbildung]
Tlaͤton gar moirai thuͤmon theſan anthroopoiſin.
[Abbildung]
Avtar hog’ Hektora dion epei philon aͤtor apaͤura!
Minna. Mir ſcheint der erſte viel laͤnger zu dauern, als
der zweyte.
Werthing. Aber bey Verſen, die nicht ſo ſehr contraſti-
ren, als dieſe, iſt die Gleichzeitigkeit merklicher.
Selmer. Jch habe Jhnen ſchon zugeſtanden, daß diejeni-
gen, welche die Anmerkung gemacht haben, die gleichen Zeiten
einigermaßen hoͤren koͤnnen. Aber ich frage Sie: denken Sie
daran, wenn Sie den Homer declamiren?
Werthing. Das thu ich freylich nicht.
Selmer. Ueberhaupt ſeh ich die Gleichzeitigkeit des Hexa-
meters nur als eine Mannichfaltigkeit weniger an. Jch wuͤrde
ſie ein zu kuͤnſtliches Ebenmaaß nennen, wenn ſie merklicher waͤre.
Werthing. Nicht jede Mannichfaltigkeit iſt eine Schoͤnheit.
Selmer. Aber diejenige, nach welcher die Verſe ungleiche
Zeiten haben, iſt es deßwegen, weil ſie etwas dazu beytraͤgt,
daß der poetiſche Periode nicht immer in gleiche Abſaͤtze ge-
theilt wird. Die Regel, daß der Kuͤnſtler die Kunſt verber-
gen muͤſſe, fodert hier die Verbindung der Aehnlichkeit mit
der Gleichheit. Sonſt muß ich von dieſer Versart noch an-
merken, daß ſie durch ihren ſtarken Rhythmus nahe ans Lyri-
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