rasch, und die weiße Rose blühete zum ersten- male roth und glühend auf, und die Liebe be- lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die Abendsonne brannte durch Laub und Blüthen, und Ines schob kindlich schuldlos den Wan- genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das sie an- strahlte: dann ergriff sie bebend die Harfe, und wie Juan ihr Spiel mit der Flöte begleitete, hub das verbotene Gespräch ohne Worte an, und die Töne bekannten und erwiederten Liebe. So bliebs bis Juan kühner wurde, die mysti- sche Hieroglyphe verschmähete, und die schöne geheimnißvolle Sünde in heller Rede offen- barte. Da schwand die Dämmerung vor der Unschuldigen, sie schien erst jezt wie durch ei- nen feindlichen Fackelglanz alles um sich her zu erkennen, und nannte zum erstenmale schaudernd und erschrocken den Namen "Bru- der!"
Die Sonne ging in demselben Augenblicke unter, und das eben noch gefärbte Antliz war schnell wieder blaß wie zuvor.
raſch, und die weiße Roſe bluͤhete zum erſten- male roth und gluͤhend auf, und die Liebe be- lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die Abendſonne brannte durch Laub und Bluͤthen, und Ines ſchob kindlich ſchuldlos den Wan- genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das ſie an- ſtrahlte: dann ergriff ſie bebend die Harfe, und wie Juan ihr Spiel mit der Floͤte begleitete, hub das verbotene Geſpraͤch ohne Worte an, und die Toͤne bekannten und erwiederten Liebe. So bliebs bis Juan kuͤhner wurde, die myſti- ſche Hieroglyphe verſchmaͤhete, und die ſchoͤne geheimnißvolle Suͤnde in heller Rede offen- barte. Da ſchwand die Daͤmmerung vor der Unſchuldigen, ſie ſchien erſt jezt wie durch ei- nen feindlichen Fackelglanz alles um ſich her zu erkennen, und nannte zum erſtenmale ſchaudernd und erſchrocken den Namen „Bru- der!“
Die Sonne ging in demſelben Augenblicke unter, und das eben noch gefaͤrbte Antliz war ſchnell wieder blaß wie zuvor.
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raſch, und die weiße Roſe bluͤhete zum erſten-
male roth und gluͤhend auf, und die Liebe be-
lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die
Abendſonne brannte durch Laub und Bluͤthen,
und Ines ſchob kindlich ſchuldlos den Wan-
genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das ſie an-
ſtrahlte: dann ergriff ſie bebend die Harfe, und
wie Juan ihr Spiel mit der Floͤte begleitete,
hub das verbotene Geſpraͤch ohne Worte an,
und die Toͤne bekannten und erwiederten Liebe.
So bliebs bis Juan kuͤhner wurde, die myſti-
ſche Hieroglyphe verſchmaͤhete, und die ſchoͤne
geheimnißvolle Suͤnde in heller Rede offen-
barte. Da ſchwand die Daͤmmerung vor der
Unſchuldigen, ſie ſchien erſt jezt wie durch ei-
nen feindlichen Fackelglanz alles um ſich her
zu erkennen, und nannte zum erſtenmale
ſchaudernd und erſchrocken den Namen „Bru-
der!“
Die Sonne ging in demſelben Augenblicke
unter, und das eben noch gefaͤrbte Antliz war
ſchnell wieder blaß wie zuvor.
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Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/89>, abgerufen am 25.11.2024.
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