Ich trete immer vor ein fremdes ungewöhn- liches Menschenleben mit denselben Gefühlen hin, wie vor den Vorhang hinter dem ein Shakspearsches Schauspiel aufgeführt werden soll; und am liebsten ist es mir, wenn jenes so wie dieses ein Trauerspiel ist, wie ich denn auch neben dem ächten Ernst nur tragischen Spaß leiden mag, und solche Narren wie im König Lear; eben weil diese allein wahrhaft kek sind und die Possenreißerei en gros trei- ben und ohne Rücksichten, über das ganze Menschenleben. Die kleinen Wizbolde und gutmüthigen Komödienverfasser dagegen, die sich nur blos in den Familien umhertreiben, und nicht, wie Aristophanes, selbst über die Götter sich lustig zu machen wagen, sind mir herzlich zuwider, eben so wie jene schwachen gerührten Seelen, die statt ein ganzes Men- schenleben zu zertrümmern, um den Menschen selbst darüber zu erheben, sich nur mit der kleinen Quälerei beschäftigen, und neben ih- rem Gefolterten den Arzt stehen haben, der
Ich trete immer vor ein fremdes ungewoͤhn- liches Menſchenleben mit denſelben Gefuͤhlen hin, wie vor den Vorhang hinter dem ein Shakſpearſches Schauſpiel aufgefuͤhrt werden ſoll; und am liebſten iſt es mir, wenn jenes ſo wie dieſes ein Trauerſpiel iſt, wie ich denn auch neben dem aͤchten Ernſt nur tragiſchen Spaß leiden mag, und ſolche Narren wie im Koͤnig Lear; eben weil dieſe allein wahrhaft kek ſind und die Poſſenreißerei en gros trei- ben und ohne Ruͤckſichten, uͤber das ganze Menſchenleben. Die kleinen Wizbolde und gutmuͤthigen Komoͤdienverfaſſer dagegen, die ſich nur blos in den Familien umhertreiben, und nicht, wie Ariſtophanes, ſelbſt uͤber die Goͤtter ſich luſtig zu machen wagen, ſind mir herzlich zuwider, eben ſo wie jene ſchwachen geruͤhrten Seelen, die ſtatt ein ganzes Men- ſchenleben zu zertruͤmmern, um den Menſchen ſelbſt daruͤber zu erheben, ſich nur mit der kleinen Quaͤlerei beſchaͤftigen, und neben ih- rem Gefolterten den Arzt ſtehen haben, der
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0055"n="53"/><p>Ich trete immer vor ein fremdes ungewoͤhn-<lb/>
liches Menſchenleben mit denſelben Gefuͤhlen<lb/>
hin, wie vor den Vorhang hinter dem ein<lb/>
Shakſpearſches Schauſpiel aufgefuͤhrt werden<lb/>ſoll; und am liebſten iſt es mir, wenn jenes<lb/>ſo wie dieſes ein Trauerſpiel iſt, wie ich denn<lb/>
auch neben dem aͤchten Ernſt nur tragiſchen<lb/>
Spaß leiden mag, und ſolche Narren wie im<lb/>
Koͤnig Lear; eben weil dieſe allein wahrhaft<lb/>
kek ſind und die Poſſenreißerei <hirendition="#aq">en gros</hi> trei-<lb/>
ben und ohne Ruͤckſichten, uͤber das ganze<lb/>
Menſchenleben. Die kleinen Wizbolde und<lb/>
gutmuͤthigen Komoͤdienverfaſſer dagegen, die<lb/>ſich nur blos in den Familien umhertreiben,<lb/>
und nicht, wie Ariſtophanes, ſelbſt uͤber die<lb/>
Goͤtter ſich luſtig zu machen wagen, ſind mir<lb/>
herzlich zuwider, eben ſo wie jene ſchwachen<lb/>
geruͤhrten Seelen, die ſtatt ein ganzes Men-<lb/>ſchenleben zu zertruͤmmern, um den Menſchen<lb/>ſelbſt daruͤber zu erheben, ſich nur mit der<lb/>
kleinen Quaͤlerei beſchaͤftigen, und neben ih-<lb/>
rem Gefolterten den Arzt ſtehen haben, der<lb/></p></div></body></text></TEI>
[53/0055]
Ich trete immer vor ein fremdes ungewoͤhn-
liches Menſchenleben mit denſelben Gefuͤhlen
hin, wie vor den Vorhang hinter dem ein
Shakſpearſches Schauſpiel aufgefuͤhrt werden
ſoll; und am liebſten iſt es mir, wenn jenes
ſo wie dieſes ein Trauerſpiel iſt, wie ich denn
auch neben dem aͤchten Ernſt nur tragiſchen
Spaß leiden mag, und ſolche Narren wie im
Koͤnig Lear; eben weil dieſe allein wahrhaft
kek ſind und die Poſſenreißerei en gros trei-
ben und ohne Ruͤckſichten, uͤber das ganze
Menſchenleben. Die kleinen Wizbolde und
gutmuͤthigen Komoͤdienverfaſſer dagegen, die
ſich nur blos in den Familien umhertreiben,
und nicht, wie Ariſtophanes, ſelbſt uͤber die
Goͤtter ſich luſtig zu machen wagen, ſind mir
herzlich zuwider, eben ſo wie jene ſchwachen
geruͤhrten Seelen, die ſtatt ein ganzes Men-
ſchenleben zu zertruͤmmern, um den Menſchen
ſelbſt daruͤber zu erheben, ſich nur mit der
kleinen Quaͤlerei beſchaͤftigen, und neben ih-
rem Gefolterten den Arzt ſtehen haben, der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/55>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.