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Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

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hineingebaut zwischen eine erbärmliche Mensch-
heit.

Die alten Künstler, die diese Göttertorsos
gedacht und gebildet hatten, zogen verhüllt
vor meinem Geiste vorüber. --

Jezt kletterte ein kleiner Dilettant von den
Anwesenden an einer medicäischen Venus ohne
Arme, mühsam hinauf, mit gespiztem Munde
und fast thränend, um, wie es schien, ihr den
Hintern, als den bekanntlich gelungensten
Kunsttheil dieser Göttin, zu küssen. Mich er-
grimmte es, weil ich in dieser herzlosen Zeit
nichts weniger ausstehen kann, als die Frazze
der Begeisterung, wozu sich manche Gesichter
verziehen können, und ich bestieg erzürnt ein
leeres Piedestal, um einige Worte zu ver-
schwenden.

Junger Kunstbruder! -- redete ich ihn an.
-- Der göttliche Hintere liegt Ihnen zu hoch,
und Sie kommen bei ihrer kurzen Gestalt nicht
hinauf, ohne sich den Hals zu brechen! Ich
rede aus Menschenliebe, denn es thut mir

hineingebaut zwiſchen eine erbaͤrmliche Menſch-
heit.

Die alten Kuͤnſtler, die dieſe Goͤttertorſos
gedacht und gebildet hatten, zogen verhuͤllt
vor meinem Geiſte voruͤber. —

Jezt kletterte ein kleiner Dilettant von den
Anweſenden an einer medicaͤiſchen Venus ohne
Arme, muͤhſam hinauf, mit geſpiztem Munde
und faſt thraͤnend, um, wie es ſchien, ihr den
Hintern, als den bekanntlich gelungenſten
Kunſttheil dieſer Goͤttin, zu kuͤſſen. Mich er-
grimmte es, weil ich in dieſer herzloſen Zeit
nichts weniger ausſtehen kann, als die Frazze
der Begeiſterung, wozu ſich manche Geſichter
verziehen koͤnnen, und ich beſtieg erzuͤrnt ein
leeres Piedeſtal, um einige Worte zu ver-
ſchwenden.

Junger Kunſtbruder! — redete ich ihn an.
— Der goͤttliche Hintere liegt Ihnen zu hoch,
und Sie kommen bei ihrer kurzen Geſtalt nicht
hinauf, ohne ſich den Hals zu brechen! Ich
rede aus Menſchenliebe, denn es thut mir

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[222/0224] hineingebaut zwiſchen eine erbaͤrmliche Menſch- heit. Die alten Kuͤnſtler, die dieſe Goͤttertorſos gedacht und gebildet hatten, zogen verhuͤllt vor meinem Geiſte voruͤber. — Jezt kletterte ein kleiner Dilettant von den Anweſenden an einer medicaͤiſchen Venus ohne Arme, muͤhſam hinauf, mit geſpiztem Munde und faſt thraͤnend, um, wie es ſchien, ihr den Hintern, als den bekanntlich gelungenſten Kunſttheil dieſer Goͤttin, zu kuͤſſen. Mich er- grimmte es, weil ich in dieſer herzloſen Zeit nichts weniger ausſtehen kann, als die Frazze der Begeiſterung, wozu ſich manche Geſichter verziehen koͤnnen, und ich beſtieg erzuͤrnt ein leeres Piedeſtal, um einige Worte zu ver- ſchwenden. Junger Kunſtbruder! — redete ich ihn an. — Der goͤttliche Hintere liegt Ihnen zu hoch, und Sie kommen bei ihrer kurzen Geſtalt nicht hinauf, ohne ſich den Hals zu brechen! Ich rede aus Menſchenliebe, denn es thut mir

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Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/224>, abgerufen am 05.05.2024.