Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ausgespart ist, anspruchslos, als wäre bloß eine alte Chronik ab- oder umgeschrieben, und eben hiedurch den Leser zu eigenem Schauen und Nachschaffen der ungeheuren Vorgänge nöthigend -- in der zweiten (kleineren) Hälfte gleicht sie der schönen Jungfrau, die in einen Fischschwanz endet, indem das Gemälde einer großartigen Leidenschaft für Volksrecht und Manneswürde auf einmal zu einer albernen Gespenstergeschichte wird, kaum besser als die vielen Dutzende, die von handwerksmäßigen Schreibern im Trosse der Romantik angefertigt wurden. Es wäre wohl ein verdienstliches Werk, wenn Jemand aus den älteren Erzgängen unserer Literatur Goldstufen, wie diesen ersten Theil des "Kohlhaas" und so manches Aehnliche, herauszubrechen und in eine literarhistorisch berichtliche, das Abgerissene für die Betrachtung ergänzende Darstellung zu fassen unternähme. Unsere Aufgabe ist eine andere. Wir dürfen uns keine eigenmächtige Weglassung oder gar Aenderung, keine Unterbrechung durch eigene Zuthat erlauben, wir haben nur die Wahl, ein in Frage kommendes Stück entweder ganz zu nehmen, wie es ist, oder ganz auf dasselbe zu verzichten. Aus diesem Grunde nun müssen wir manchmal Bedeutenderes zurückstellen, wenn es ungesunde Bestandtheile hat, die wir weder beibehalten, noch entfernen können, und müssen dafür Anderes, das sich Jenem in der Hauptsache nicht an die Seite stellen dürfte, vorziehen, sobald es in seinem Gesammtbestande den so eben bezeichneten Anspruch erhebt. So legen wir denn, indem wir den "Kohlhaas" einem andern Verfahren anheimgeben, die "Verlobung in St. Domingo" vor, eine in ihrer Art vortreffliche Novelle. Man wird zwar auch hier den Dämon, der den Dichter beherrschte, an mehr als flüchtigen Zuckungen erkennen: nur aus einem gewaltsamen Seelenzustande erklärt sich die eigensinnige Motivirung ausgespart ist, anspruchslos, als wäre bloß eine alte Chronik ab- oder umgeschrieben, und eben hiedurch den Leser zu eigenem Schauen und Nachschaffen der ungeheuren Vorgänge nöthigend — in der zweiten (kleineren) Hälfte gleicht sie der schönen Jungfrau, die in einen Fischschwanz endet, indem das Gemälde einer großartigen Leidenschaft für Volksrecht und Manneswürde auf einmal zu einer albernen Gespenstergeschichte wird, kaum besser als die vielen Dutzende, die von handwerksmäßigen Schreibern im Trosse der Romantik angefertigt wurden. Es wäre wohl ein verdienstliches Werk, wenn Jemand aus den älteren Erzgängen unserer Literatur Goldstufen, wie diesen ersten Theil des „Kohlhaas“ und so manches Aehnliche, herauszubrechen und in eine literarhistorisch berichtliche, das Abgerissene für die Betrachtung ergänzende Darstellung zu fassen unternähme. Unsere Aufgabe ist eine andere. Wir dürfen uns keine eigenmächtige Weglassung oder gar Aenderung, keine Unterbrechung durch eigene Zuthat erlauben, wir haben nur die Wahl, ein in Frage kommendes Stück entweder ganz zu nehmen, wie es ist, oder ganz auf dasselbe zu verzichten. Aus diesem Grunde nun müssen wir manchmal Bedeutenderes zurückstellen, wenn es ungesunde Bestandtheile hat, die wir weder beibehalten, noch entfernen können, und müssen dafür Anderes, das sich Jenem in der Hauptsache nicht an die Seite stellen dürfte, vorziehen, sobald es in seinem Gesammtbestande den so eben bezeichneten Anspruch erhebt. So legen wir denn, indem wir den „Kohlhaas“ einem andern Verfahren anheimgeben, die „Verlobung in St. Domingo“ vor, eine in ihrer Art vortreffliche Novelle. Man wird zwar auch hier den Dämon, der den Dichter beherrschte, an mehr als flüchtigen Zuckungen erkennen: nur aus einem gewaltsamen Seelenzustande erklärt sich die eigensinnige Motivirung <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0007"/> ausgespart ist, anspruchslos, als wäre bloß eine alte Chronik ab- oder umgeschrieben, und eben hiedurch den Leser zu eigenem Schauen und Nachschaffen der ungeheuren Vorgänge nöthigend — in der zweiten (kleineren) Hälfte gleicht sie der schönen Jungfrau, die in einen Fischschwanz endet, indem das Gemälde einer großartigen Leidenschaft für Volksrecht und Manneswürde auf einmal zu einer albernen Gespenstergeschichte wird, kaum besser als die vielen Dutzende, die von handwerksmäßigen Schreibern im Trosse der Romantik angefertigt wurden.</p><lb/> <p>Es wäre wohl ein verdienstliches Werk, wenn Jemand aus den älteren Erzgängen unserer Literatur Goldstufen, wie diesen ersten Theil des „Kohlhaas“ und so manches Aehnliche, herauszubrechen und in eine literarhistorisch berichtliche, das Abgerissene für die Betrachtung ergänzende Darstellung zu fassen unternähme. Unsere Aufgabe ist eine andere. Wir dürfen uns keine eigenmächtige Weglassung oder gar Aenderung, keine Unterbrechung durch eigene Zuthat erlauben, wir haben nur die Wahl, ein in Frage kommendes Stück entweder ganz zu nehmen, wie es ist, oder ganz auf dasselbe zu verzichten. Aus diesem Grunde nun müssen wir manchmal Bedeutenderes zurückstellen, wenn es ungesunde Bestandtheile hat, die wir weder beibehalten, noch entfernen können, und müssen dafür Anderes, das sich Jenem in der Hauptsache nicht an die Seite stellen dürfte, vorziehen, sobald es in seinem Gesammtbestande den so eben bezeichneten Anspruch erhebt.</p><lb/> <p>So legen wir denn, indem wir den „Kohlhaas“ einem andern Verfahren anheimgeben, die „Verlobung in St. Domingo“ vor, eine in ihrer Art vortreffliche Novelle. Man wird zwar auch hier den Dämon, der den Dichter beherrschte, an mehr als flüchtigen Zuckungen erkennen: nur aus einem gewaltsamen Seelenzustande erklärt sich die eigensinnige Motivirung<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0007]
ausgespart ist, anspruchslos, als wäre bloß eine alte Chronik ab- oder umgeschrieben, und eben hiedurch den Leser zu eigenem Schauen und Nachschaffen der ungeheuren Vorgänge nöthigend — in der zweiten (kleineren) Hälfte gleicht sie der schönen Jungfrau, die in einen Fischschwanz endet, indem das Gemälde einer großartigen Leidenschaft für Volksrecht und Manneswürde auf einmal zu einer albernen Gespenstergeschichte wird, kaum besser als die vielen Dutzende, die von handwerksmäßigen Schreibern im Trosse der Romantik angefertigt wurden.
Es wäre wohl ein verdienstliches Werk, wenn Jemand aus den älteren Erzgängen unserer Literatur Goldstufen, wie diesen ersten Theil des „Kohlhaas“ und so manches Aehnliche, herauszubrechen und in eine literarhistorisch berichtliche, das Abgerissene für die Betrachtung ergänzende Darstellung zu fassen unternähme. Unsere Aufgabe ist eine andere. Wir dürfen uns keine eigenmächtige Weglassung oder gar Aenderung, keine Unterbrechung durch eigene Zuthat erlauben, wir haben nur die Wahl, ein in Frage kommendes Stück entweder ganz zu nehmen, wie es ist, oder ganz auf dasselbe zu verzichten. Aus diesem Grunde nun müssen wir manchmal Bedeutenderes zurückstellen, wenn es ungesunde Bestandtheile hat, die wir weder beibehalten, noch entfernen können, und müssen dafür Anderes, das sich Jenem in der Hauptsache nicht an die Seite stellen dürfte, vorziehen, sobald es in seinem Gesammtbestande den so eben bezeichneten Anspruch erhebt.
So legen wir denn, indem wir den „Kohlhaas“ einem andern Verfahren anheimgeben, die „Verlobung in St. Domingo“ vor, eine in ihrer Art vortreffliche Novelle. Man wird zwar auch hier den Dämon, der den Dichter beherrschte, an mehr als flüchtigen Zuckungen erkennen: nur aus einem gewaltsamen Seelenzustande erklärt sich die eigensinnige Motivirung
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