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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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Armuth und Fülle, Verödung und Pracht, pkl_026.002
Wechseln auf Erden wie Dämm'rung und Nacht.
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Matthisson.

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[Beginn Spaltensatz]

4)

Preis dem Geborenen pkl_026.005
Bringen wir dar, pkl_026.006
Preis der erkorenen pkl_026.007
Gläubigen Schaar!
pkl_026.008
Platen.

[Spaltenumbruch] pkl_026.101

5)

Lüftchen! woher und wohin pkl_026.102
Trägst du so lieblichen Duft? pkl_026.103
Sicher, mit liebendem Sinn pkl_026.104
Schönes, Geliebtes dich ruft!
pkl_026.105
Wessenberg.

[Ende Spaltensatz] pkl_026.106

6)

Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! pkl_026.107
Kinder der Klugheit, o habet die Narren pkl_026.108
Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!
pkl_026.109
Göthe.

pkl_026.110
IV. Anapästische Verse.
pkl_026.111

§. 39. Ganze Gedichte von rein anapästischen pkl_026.112
Versen giebts im Deutschen bis jetzt wohl noch gar pkl_026.113
nicht. Jn manchen Gedichten gemischten Versmaaßes pkl_026.114
finden sich aber allerdings hier und da auch reine anapästische pkl_026.115
Verse.

pkl_026.116

Beispiel:

pkl_026.117

Und es wallet und siedet und brauset und zischt, pkl_026.118
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt; pkl_026.119
Bis zum Himmel u. s. w.
pkl_026.120
Schiller im "Taucher."

pkl_026.121

Anmerkung. Der Ungewohnheit wegen wird Mancher pkl_026.122
geneigt sein, in diesen und ähnlichen Versen die Anfangssilbe, pkl_026.123
wenn sie auch an sich kurz ist, als lang zu nehmen, wodurch der pkl_026.124
anapästische Charakter verloren ginge. Das wäre aber -- hier pkl_026.125
wenigstens -- ganz gegen die Absicht des Dichters, denn das pkl_026.126
Silbenmaaß im "Taucher" besteht offenbar in einer regelmäßigen pkl_026.127
Abwechslung von vierfüßigen und dreifüßigen gemischten pkl_026.128
Versen. -- Auf geeignete Weise gelesen, tritt der rein anapästische pkl_026.129
Charakter vollkommen hervor. Es liegt dann viel pkl_026.130
Schwung und hinreißende Kraft in dieser Versart, und dürfte pkl_026.131
daher bei geeignetem Jnhalte ihre häufigere Anwendung wünschenswerth pkl_026.132
sein, auch zu ganzen Gedichten, was freilich schwierig pkl_026.133
sein mag. Gewöhnen würde man sich bald daran.

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Armuth und Fülle, Verödung und Pracht, pkl_026.002
Wechseln auf Erden wie Dämm'rung und Nacht.
pkl_026.003
Matthisson.

pkl_026.004
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IV. Anapästische Verse.
pkl_026.111

§. 39. Ganze Gedichte von rein anapästischen pkl_026.112
Versen giebts im Deutschen bis jetzt wohl noch gar pkl_026.113
nicht. Jn manchen Gedichten gemischten Versmaaßes pkl_026.114
finden sich aber allerdings hier und da auch reine anapästische pkl_026.115
Verse.

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Beispiel:

pkl_026.117

Und es wallet und siedet und brauset und zischt, pkl_026.118
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt; pkl_026.119
Bis zum Himmel u. s. w.
pkl_026.120
Schiller im „Taucher.“

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Anmerkung. Der Ungewohnheit wegen wird Mancher pkl_026.122
geneigt sein, in diesen und ähnlichen Versen die Anfangssilbe, pkl_026.123
wenn sie auch an sich kurz ist, als lang zu nehmen, wodurch der pkl_026.124
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wenigstens — ganz gegen die Absicht des Dichters, denn das pkl_026.126
Silbenmaaß im „Taucher“ besteht offenbar in einer regelmäßigen pkl_026.127
Abwechslung von vierfüßigen und dreifüßigen gemischten pkl_026.128
Versen. — Auf geeignete Weise gelesen, tritt der rein anapästische pkl_026.129
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[26/0052] pkl_026.001 Armuth und Fülle, Verödung und Pracht, pkl_026.002 Wechseln auf Erden wie Dämm'rung und Nacht. pkl_026.003 Matthisson. pkl_026.004 4) Preis dem Geborenen pkl_026.005 Bringen wir dar, pkl_026.006 Preis der erkorenen pkl_026.007 Gläubigen Schaar! pkl_026.008 Platen. pkl_026.101 5) Lüftchen! woher und wohin pkl_026.102 Trägst du so lieblichen Duft? pkl_026.103 Sicher, mit liebendem Sinn pkl_026.104 Schönes, Geliebtes dich ruft! pkl_026.105 Wessenberg. pkl_026.106 6) Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! pkl_026.107 Kinder der Klugheit, o habet die Narren pkl_026.108 Eben zum Narren auch, wie sich's gehört! pkl_026.109 Göthe. pkl_026.110 IV. Anapästische Verse. pkl_026.111 §. 39. Ganze Gedichte von rein anapästischen pkl_026.112 Versen giebts im Deutschen bis jetzt wohl noch gar pkl_026.113 nicht. Jn manchen Gedichten gemischten Versmaaßes pkl_026.114 finden sich aber allerdings hier und da auch reine anapästische pkl_026.115 Verse. pkl_026.116 Beispiel: pkl_026.117 Und es wallet und siedet und brauset und zischt, pkl_026.118 Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt; pkl_026.119 Bis zum Himmel u. s. w. pkl_026.120 Schiller im „Taucher.“ pkl_026.121 Anmerkung. Der Ungewohnheit wegen wird Mancher pkl_026.122 geneigt sein, in diesen und ähnlichen Versen die Anfangssilbe, pkl_026.123 wenn sie auch an sich kurz ist, als lang zu nehmen, wodurch der pkl_026.124 anapästische Charakter verloren ginge. Das wäre aber — hier pkl_026.125 wenigstens — ganz gegen die Absicht des Dichters, denn das pkl_026.126 Silbenmaaß im „Taucher“ besteht offenbar in einer regelmäßigen pkl_026.127 Abwechslung von vierfüßigen und dreifüßigen gemischten pkl_026.128 Versen. — Auf geeignete Weise gelesen, tritt der rein anapästische pkl_026.129 Charakter vollkommen hervor. Es liegt dann viel pkl_026.130 Schwung und hinreißende Kraft in dieser Versart, und dürfte pkl_026.131 daher bei geeignetem Jnhalte ihre häufigere Anwendung wünschenswerth pkl_026.132 sein, auch zu ganzen Gedichten, was freilich schwierig pkl_026.133 sein mag. Gewöhnen würde man sich bald daran.

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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/52>, abgerufen am 22.11.2024.