Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
pkl_120.001
I. Die Fabel.
pkl_120.002

§. 175. Fabel heißt im allgemeinern Sinne überhaupt pkl_120.003
eine Begebenheit, eine Handlung. So pkl_120.004
nennt man die einer dramatischen oder epischen Dichtung pkl_120.005
zu Grunde liegende Handlung oder Begebenheit pkl_120.006
Fabel. Jm engern Sinne, als Dichtungsart, ist pkl_120.007
die Fabel die Veranschaulichung einer allgemeinen pkl_120.008
Jdee, meist einer Weisheits- oder pkl_120.009
Klugheitsregel durch eine erdichtete, als vergangen pkl_120.010
erscheinende Handlung, in welcher pkl_120.011
willenlose Wesen, vorzugsweise aber Thiere pkl_120.012
den Menschen repräsentiren.

pkl_120.013

"Die Fabel ist in Hinsicht ihrer Auffassung pkl_120.014
allegorisch,
nach ihrem Zwecke didaktisch, in pkl_120.015
Rücksicht ihrer Darstellung episch." Was zunächst pkl_120.016
die letztere angeht, so hat es der Dichter dabei nur pkl_120.017
mit der Vorführung des Faktischen zu thun, da eine pkl_120.018
Charakterzeichnung der handelnd eingeführten Wesen pkl_120.019
nicht nöthig ist, indem jedes derselben seine bestimmt pkl_120.020
ausgeprägte und als bekannt vorauszusetzende Eigenthümlichkeit pkl_120.021
hat, welche Eigenthümlichkeit zugleich die pkl_120.022
der ganzen Gattung ist. Wenn dieser Umstand einerseits pkl_120.023
die höchste Einfachheit der Handlung bedingt, pkl_120.024
so macht er anderseits auch eine Klarheit, Gedrungenheit pkl_120.025
und Bestimmtheit derselben möglich, die pkl_120.026
sich auf anderem Wege schwerlich so leicht erreichen pkl_120.027
läßt. Hauptsache ist nun, daß die fingirte Handlung pkl_120.028
der Fabel derjenigen möglichst analog sei, deren Sinnbild pkl_120.029
und Spiegel sie sein, auf welche sie Beziehung, pkl_120.030
Anwendung leiden, für welche sie zur Lehre dienen soll.

pkl_120.001
I. Die Fabel.
pkl_120.002

§. 175. Fabel heißt im allgemeinern Sinne überhaupt pkl_120.003
eine Begebenheit, eine Handlung. So pkl_120.004
nennt man die einer dramatischen oder epischen Dichtung pkl_120.005
zu Grunde liegende Handlung oder Begebenheit pkl_120.006
Fabel. Jm engern Sinne, als Dichtungsart, ist pkl_120.007
die Fabel die Veranschaulichung einer allgemeinen pkl_120.008
Jdee, meist einer Weisheits- oder pkl_120.009
Klugheitsregel durch eine erdichtete, als vergangen pkl_120.010
erscheinende Handlung, in welcher pkl_120.011
willenlose Wesen, vorzugsweise aber Thiere pkl_120.012
den Menschen repräsentiren.

pkl_120.013

„Die Fabel ist in Hinsicht ihrer Auffassung pkl_120.014
allegorisch,
nach ihrem Zwecke didaktisch, in pkl_120.015
Rücksicht ihrer Darstellung episch.“ Was zunächst pkl_120.016
die letztere angeht, so hat es der Dichter dabei nur pkl_120.017
mit der Vorführung des Faktischen zu thun, da eine pkl_120.018
Charakterzeichnung der handelnd eingeführten Wesen pkl_120.019
nicht nöthig ist, indem jedes derselben seine bestimmt pkl_120.020
ausgeprägte und als bekannt vorauszusetzende Eigenthümlichkeit pkl_120.021
hat, welche Eigenthümlichkeit zugleich die pkl_120.022
der ganzen Gattung ist. Wenn dieser Umstand einerseits pkl_120.023
die höchste Einfachheit der Handlung bedingt, pkl_120.024
so macht er anderseits auch eine Klarheit, Gedrungenheit pkl_120.025
und Bestimmtheit derselben möglich, die pkl_120.026
sich auf anderem Wege schwerlich so leicht erreichen pkl_120.027
läßt. Hauptsache ist nun, daß die fingirte Handlung pkl_120.028
der Fabel derjenigen möglichst analog sei, deren Sinnbild pkl_120.029
und Spiegel sie sein, auf welche sie Beziehung, pkl_120.030
Anwendung leiden, für welche sie zur Lehre dienen soll.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0146" n="120"/>
              <lb n="pkl_120.001"/>
            </div>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">I</hi>. <hi rendition="#g">Die Fabel.</hi></hi> </head>
              <lb n="pkl_120.002"/>
              <p>  §. 175. <hi rendition="#g">Fabel</hi> heißt im allgemeinern Sinne überhaupt <lb n="pkl_120.003"/>
eine <hi rendition="#g">Begebenheit,</hi> eine <hi rendition="#g">Handlung.</hi> So <lb n="pkl_120.004"/>
nennt man die einer dramatischen oder epischen Dichtung <lb n="pkl_120.005"/>
zu Grunde liegende Handlung oder Begebenheit <lb n="pkl_120.006"/>
Fabel. Jm engern Sinne, <hi rendition="#g">als Dichtungsart, ist <lb n="pkl_120.007"/>
die Fabel die Veranschaulichung einer allgemeinen <lb n="pkl_120.008"/>
Jdee, meist einer Weisheits- oder <lb n="pkl_120.009"/>
Klugheitsregel durch eine erdichtete, als vergangen <lb n="pkl_120.010"/>
erscheinende Handlung, in welcher <lb n="pkl_120.011"/>
willenlose Wesen, vorzugsweise aber Thiere <lb n="pkl_120.012"/>
den Menschen repräsentiren.</hi></p>
              <lb n="pkl_120.013"/>
              <p>  &#x201E;Die Fabel ist in Hinsicht ihrer <hi rendition="#g">Auffassung <lb n="pkl_120.014"/>
allegorisch,</hi> nach ihrem <hi rendition="#g">Zwecke didaktisch,</hi> in <lb n="pkl_120.015"/>
Rücksicht ihrer <hi rendition="#g">Darstellung episch.</hi>&#x201C; Was zunächst <lb n="pkl_120.016"/>
die letztere angeht, so hat es der Dichter dabei nur <lb n="pkl_120.017"/>
mit der Vorführung des <hi rendition="#g">Faktischen</hi> zu thun, da eine <lb n="pkl_120.018"/>
Charakterzeichnung der handelnd eingeführten Wesen <lb n="pkl_120.019"/>
nicht nöthig ist, indem jedes derselben seine bestimmt <lb n="pkl_120.020"/>
ausgeprägte und als bekannt vorauszusetzende Eigenthümlichkeit <lb n="pkl_120.021"/>
hat, welche Eigenthümlichkeit zugleich die <lb n="pkl_120.022"/>
der ganzen Gattung ist. Wenn dieser Umstand einerseits <lb n="pkl_120.023"/>
die <hi rendition="#g">höchste Einfachheit</hi> der Handlung bedingt, <lb n="pkl_120.024"/>
so macht er anderseits auch eine <hi rendition="#g">Klarheit, Gedrungenheit</hi> <lb n="pkl_120.025"/>
und <hi rendition="#g">Bestimmtheit</hi> derselben möglich, die <lb n="pkl_120.026"/>
sich auf anderem Wege schwerlich so leicht erreichen <lb n="pkl_120.027"/>
läßt. Hauptsache ist nun, daß die fingirte Handlung <lb n="pkl_120.028"/>
der Fabel derjenigen möglichst analog sei, deren Sinnbild <lb n="pkl_120.029"/>
und Spiegel sie sein, auf welche sie Beziehung, <lb n="pkl_120.030"/>
Anwendung leiden, für welche sie zur Lehre dienen soll.
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0146] pkl_120.001 I. Die Fabel. pkl_120.002 §. 175. Fabel heißt im allgemeinern Sinne überhaupt pkl_120.003 eine Begebenheit, eine Handlung. So pkl_120.004 nennt man die einer dramatischen oder epischen Dichtung pkl_120.005 zu Grunde liegende Handlung oder Begebenheit pkl_120.006 Fabel. Jm engern Sinne, als Dichtungsart, ist pkl_120.007 die Fabel die Veranschaulichung einer allgemeinen pkl_120.008 Jdee, meist einer Weisheits- oder pkl_120.009 Klugheitsregel durch eine erdichtete, als vergangen pkl_120.010 erscheinende Handlung, in welcher pkl_120.011 willenlose Wesen, vorzugsweise aber Thiere pkl_120.012 den Menschen repräsentiren. pkl_120.013 „Die Fabel ist in Hinsicht ihrer Auffassung pkl_120.014 allegorisch, nach ihrem Zwecke didaktisch, in pkl_120.015 Rücksicht ihrer Darstellung episch.“ Was zunächst pkl_120.016 die letztere angeht, so hat es der Dichter dabei nur pkl_120.017 mit der Vorführung des Faktischen zu thun, da eine pkl_120.018 Charakterzeichnung der handelnd eingeführten Wesen pkl_120.019 nicht nöthig ist, indem jedes derselben seine bestimmt pkl_120.020 ausgeprägte und als bekannt vorauszusetzende Eigenthümlichkeit pkl_120.021 hat, welche Eigenthümlichkeit zugleich die pkl_120.022 der ganzen Gattung ist. Wenn dieser Umstand einerseits pkl_120.023 die höchste Einfachheit der Handlung bedingt, pkl_120.024 so macht er anderseits auch eine Klarheit, Gedrungenheit pkl_120.025 und Bestimmtheit derselben möglich, die pkl_120.026 sich auf anderem Wege schwerlich so leicht erreichen pkl_120.027 läßt. Hauptsache ist nun, daß die fingirte Handlung pkl_120.028 der Fabel derjenigen möglichst analog sei, deren Sinnbild pkl_120.029 und Spiegel sie sein, auf welche sie Beziehung, pkl_120.030 Anwendung leiden, für welche sie zur Lehre dienen soll.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/146
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/146>, abgerufen am 07.05.2024.