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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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Lyrische Poesie.
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§. 117. Lyrisch nannten die Griechen jedes Gedicht, pkl_082.005
das mit Begleitung der Lyra vorgetragen wurde. pkl_082.006
Wir legen den Namen allen denjenigen poetischen Produkten pkl_082.007
bei, deren Hauptcharakter Veranschaulichung pkl_082.008
des Schönen durch Schilderung bestimmter, pkl_082.009
subjektiver Empfindungen des pkl_082.010
Dichters ist.
-- Es giebt aber auch viele lyrische pkl_082.011
Gedichte, in welchen der Dichter nicht seine eigenen pkl_082.012
Gefühle schildert, sondern eine andere, entweder wirkliche pkl_082.013
oder fingirte Person, in deren Geist und Lage pkl_082.014
er sich hineindenkt, Gefühle aussprechen läßt. Hier hat pkl_082.015
also auch die Lyrik einen objektiven, wenigstens keinen pkl_082.016
eigentlich subjektiven Charakter. -- Da es in Bezug pkl_082.017
auf die zu schildernden Empfindungen immer eines pkl_082.018
Anknüpfungspunktes bedarf, so werden die lyrischen pkl_082.019
Gedichte nicht bloß die Gefühle schildern, pkl_082.020
sondern zugleich diejenigen Erscheinungen und Ereignisse pkl_082.021
erwähnen oder vorführen, die dieselben veranlassen. pkl_082.022
Je mehr Berücksichtigung jenen Erscheinungen pkl_082.023
und Ereignissen in dem Gedichte zu Theil pkl_082.024
geworden ist, je mehr die Gefühlsschilderung selbst zu-

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Lyrische Poesie.
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§. 117. Lyrisch nannten die Griechen jedes Gedicht, pkl_082.005
das mit Begleitung der Lyra vorgetragen wurde. pkl_082.006
Wir legen den Namen allen denjenigen poetischen Produkten pkl_082.007
bei, deren Hauptcharakter Veranschaulichung pkl_082.008
des Schönen durch Schilderung bestimmter, pkl_082.009
subjektiver Empfindungen des pkl_082.010
Dichters ist.
— Es giebt aber auch viele lyrische pkl_082.011
Gedichte, in welchen der Dichter nicht seine eigenen pkl_082.012
Gefühle schildert, sondern eine andere, entweder wirkliche pkl_082.013
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also auch die Lyrik einen objektiven, wenigstens keinen pkl_082.016
eigentlich subjektiven Charakter. — Da es in Bezug pkl_082.017
auf die zu schildernden Empfindungen immer eines pkl_082.018
Anknüpfungspunktes bedarf, so werden die lyrischen pkl_082.019
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[E82/0108] pkl_082.001 Erster Abschnitt. pkl_082.002 [Abbildung] pkl_082.003 Lyrische Poesie. pkl_082.004 §. 117. Lyrisch nannten die Griechen jedes Gedicht, pkl_082.005 das mit Begleitung der Lyra vorgetragen wurde. pkl_082.006 Wir legen den Namen allen denjenigen poetischen Produkten pkl_082.007 bei, deren Hauptcharakter Veranschaulichung pkl_082.008 des Schönen durch Schilderung bestimmter, pkl_082.009 subjektiver Empfindungen des pkl_082.010 Dichters ist. — Es giebt aber auch viele lyrische pkl_082.011 Gedichte, in welchen der Dichter nicht seine eigenen pkl_082.012 Gefühle schildert, sondern eine andere, entweder wirkliche pkl_082.013 oder fingirte Person, in deren Geist und Lage pkl_082.014 er sich hineindenkt, Gefühle aussprechen läßt. Hier hat pkl_082.015 also auch die Lyrik einen objektiven, wenigstens keinen pkl_082.016 eigentlich subjektiven Charakter. — Da es in Bezug pkl_082.017 auf die zu schildernden Empfindungen immer eines pkl_082.018 Anknüpfungspunktes bedarf, so werden die lyrischen pkl_082.019 Gedichte nicht bloß die Gefühle schildern, pkl_082.020 sondern zugleich diejenigen Erscheinungen und Ereignisse pkl_082.021 erwähnen oder vorführen, die dieselben veranlassen. pkl_082.022 Je mehr Berücksichtigung jenen Erscheinungen pkl_082.023 und Ereignissen in dem Gedichte zu Theil pkl_082.024 geworden ist, je mehr die Gefühlsschilderung selbst zu-

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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. E82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/108>, abgerufen am 07.05.2024.