Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

als unübertrefflich galt. Die neueste Oper, die sie kannte, war Fidelio.

Sohling blätterte in den Musikalien, die umher lagen, und fand Namen vom ersten Range, aber nur bis zu einer gewissen Zeit. Von den Lebenden auch nicht Einen.

Welche Fülle von Genuß steht Ihnen noch bevor, sagte er, wenn Sie das Treffliche kennen lernen, das unsere Zeitgenossen schufen. Bei einer Grundlage, wie die Ihre, werden Sie leichter als Andere auffassen, wie redlich unsere großen Meister auf der Bahn weiter bauten, die jene Unsterblichen vorher geebnet haben.

Ida lächelte bitter: Sie werden doch einem Ohr, das von diesen unsterblichen Klängen genährt ist, nicht zumuthen wollen, sich an so ephemerer Musik zu erfreuen.

Sohling sah sie ironisch an. Sie schlug die Augen nieder; denn sie besann sich, daß sie ja keinen von den Componisten, die er ihr genannt, je eines gründlichen Studiums gewürdigt hatte. Er selbst war mit Personen von dieser Urtheilsstufe schon zu oft zusammengetroffen, um sich daran zu ärgern. Höchstens ein Lächeln hatte er, wie jeder gebildete Musiker von weitumfassendem Ueberblick, für den beschränkten Hochmuth der kleinen Gemeinde, die man wohl die musikalischen Pietisten nennen möchte. Die eine Hälfte besteht aus Denjenigen, die zu träg waren, mit der Kunst gleichen Schritt zu halten. Auf einer gewissen Stufe zurück-

als unübertrefflich galt. Die neueste Oper, die sie kannte, war Fidelio.

Sohling blätterte in den Musikalien, die umher lagen, und fand Namen vom ersten Range, aber nur bis zu einer gewissen Zeit. Von den Lebenden auch nicht Einen.

Welche Fülle von Genuß steht Ihnen noch bevor, sagte er, wenn Sie das Treffliche kennen lernen, das unsere Zeitgenossen schufen. Bei einer Grundlage, wie die Ihre, werden Sie leichter als Andere auffassen, wie redlich unsere großen Meister auf der Bahn weiter bauten, die jene Unsterblichen vorher geebnet haben.

Ida lächelte bitter: Sie werden doch einem Ohr, das von diesen unsterblichen Klängen genährt ist, nicht zumuthen wollen, sich an so ephemerer Musik zu erfreuen.

Sohling sah sie ironisch an. Sie schlug die Augen nieder; denn sie besann sich, daß sie ja keinen von den Componisten, die er ihr genannt, je eines gründlichen Studiums gewürdigt hatte. Er selbst war mit Personen von dieser Urtheilsstufe schon zu oft zusammengetroffen, um sich daran zu ärgern. Höchstens ein Lächeln hatte er, wie jeder gebildete Musiker von weitumfassendem Ueberblick, für den beschränkten Hochmuth der kleinen Gemeinde, die man wohl die musikalischen Pietisten nennen möchte. Die eine Hälfte besteht aus Denjenigen, die zu träg waren, mit der Kunst gleichen Schritt zu halten. Auf einer gewissen Stufe zurück-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0051"/>
als unübertrefflich galt. Die      neueste Oper, die sie kannte, war Fidelio.</p><lb/>
        <p>Sohling blätterte in den Musikalien, die umher lagen, und fand Namen vom ersten Range, aber      nur bis zu einer gewissen Zeit. Von den Lebenden auch nicht Einen.</p><lb/>
        <p>Welche Fülle von Genuß steht Ihnen noch bevor, sagte er, wenn Sie das Treffliche kennen      lernen, das unsere Zeitgenossen schufen. Bei einer Grundlage, wie die Ihre, werden Sie leichter      als Andere auffassen, wie redlich unsere großen Meister auf der Bahn weiter bauten, die jene      Unsterblichen vorher geebnet haben.</p><lb/>
        <p>Ida lächelte bitter: Sie werden doch einem Ohr, das von diesen unsterblichen Klängen genährt      ist, nicht zumuthen wollen, sich an so ephemerer Musik zu erfreuen.</p><lb/>
        <p>Sohling sah sie ironisch an. Sie schlug die Augen nieder; denn sie besann sich, daß sie ja      keinen von den Componisten, die er ihr genannt, je eines gründlichen Studiums gewürdigt hatte.      Er selbst war mit Personen von dieser Urtheilsstufe schon zu oft zusammengetroffen, um sich      daran zu ärgern. Höchstens ein Lächeln hatte er, wie jeder gebildete Musiker von      weitumfassendem Ueberblick, für den beschränkten Hochmuth der kleinen Gemeinde, die man wohl      die musikalischen Pietisten nennen möchte. Die eine Hälfte besteht aus Denjenigen, die zu träg      waren, mit der Kunst gleichen Schritt zu halten. Auf einer gewissen Stufe zurück-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0051] als unübertrefflich galt. Die neueste Oper, die sie kannte, war Fidelio. Sohling blätterte in den Musikalien, die umher lagen, und fand Namen vom ersten Range, aber nur bis zu einer gewissen Zeit. Von den Lebenden auch nicht Einen. Welche Fülle von Genuß steht Ihnen noch bevor, sagte er, wenn Sie das Treffliche kennen lernen, das unsere Zeitgenossen schufen. Bei einer Grundlage, wie die Ihre, werden Sie leichter als Andere auffassen, wie redlich unsere großen Meister auf der Bahn weiter bauten, die jene Unsterblichen vorher geebnet haben. Ida lächelte bitter: Sie werden doch einem Ohr, das von diesen unsterblichen Klängen genährt ist, nicht zumuthen wollen, sich an so ephemerer Musik zu erfreuen. Sohling sah sie ironisch an. Sie schlug die Augen nieder; denn sie besann sich, daß sie ja keinen von den Componisten, die er ihr genannt, je eines gründlichen Studiums gewürdigt hatte. Er selbst war mit Personen von dieser Urtheilsstufe schon zu oft zusammengetroffen, um sich daran zu ärgern. Höchstens ein Lächeln hatte er, wie jeder gebildete Musiker von weitumfassendem Ueberblick, für den beschränkten Hochmuth der kleinen Gemeinde, die man wohl die musikalischen Pietisten nennen möchte. Die eine Hälfte besteht aus Denjenigen, die zu träg waren, mit der Kunst gleichen Schritt zu halten. Auf einer gewissen Stufe zurück-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/51
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/51>, abgerufen am 06.05.2024.