Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.jungen Gräfin verrieth, eine der Rossini'schen Lieblingsarien des Grafen, um die er Ida einige Male vergebens gebeten hatte. Madame Fioretta sang sie so, daß sie einen mit der ganzen italienischen Musik hätte versöhnen können. Die lang gehaltenen Töne des Adagio in der tieferen Stimmregion bebten und schwellten sich von der lieblichsten Zartheit bis zur unerhörtesten Kraft. Wie ein Spiel krystallener Glöckchen schlug dann das Rondo hinein, und der Abschluß, der im höchsten Sopran lag, ließ die Prachtstimme der Sängerin ihren ganzen Reichthum entfalten. Kein höherer Geist war in dieser Leistung, aber ein sinnlicher Zauber, der auch den ärgsten Rigoristen auf Augenblicke blenden und berücken mußte. Ida wußte Alles, was in Selvar jetzt vorging als wäre sie zugegen; was er sagen würde, mit welchem Blick er jetzt nach den Lippen der schönen Sängerin hinlauschte. Sie bog sich über das Geländer und ließ die Thränen in den Fluß hinabtropfen. Am liebsten hätte sie selbst sich hinuntergestürzt. Das Wasser rauschte munter vorwärts, drüben hörte sie ein neues Vorspiel, sie wollte nicht länger horchen; rasch wandte sie sich und ging durch die Dunkelheit der Stadt zu. Nach einer unsäglich bittern Nacht brachte ihr der erste Sonnenblick den Entschluß, der sie aus ihrer Seelen-Erschöpfung endlich errettete. Sie ordnete Alles zur Abreise, wohin, wußte sie noch nicht. Erst als sie durch eine schriftliche Anzeige an ihre Schülerinnen jungen Gräfin verrieth, eine der Rossini'schen Lieblingsarien des Grafen, um die er Ida einige Male vergebens gebeten hatte. Madame Fioretta sang sie so, daß sie einen mit der ganzen italienischen Musik hätte versöhnen können. Die lang gehaltenen Töne des Adagio in der tieferen Stimmregion bebten und schwellten sich von der lieblichsten Zartheit bis zur unerhörtesten Kraft. Wie ein Spiel krystallener Glöckchen schlug dann das Rondo hinein, und der Abschluß, der im höchsten Sopran lag, ließ die Prachtstimme der Sängerin ihren ganzen Reichthum entfalten. Kein höherer Geist war in dieser Leistung, aber ein sinnlicher Zauber, der auch den ärgsten Rigoristen auf Augenblicke blenden und berücken mußte. Ida wußte Alles, was in Selvar jetzt vorging als wäre sie zugegen; was er sagen würde, mit welchem Blick er jetzt nach den Lippen der schönen Sängerin hinlauschte. Sie bog sich über das Geländer und ließ die Thränen in den Fluß hinabtropfen. Am liebsten hätte sie selbst sich hinuntergestürzt. Das Wasser rauschte munter vorwärts, drüben hörte sie ein neues Vorspiel, sie wollte nicht länger horchen; rasch wandte sie sich und ging durch die Dunkelheit der Stadt zu. Nach einer unsäglich bittern Nacht brachte ihr der erste Sonnenblick den Entschluß, der sie aus ihrer Seelen-Erschöpfung endlich errettete. Sie ordnete Alles zur Abreise, wohin, wußte sie noch nicht. Erst als sie durch eine schriftliche Anzeige an ihre Schülerinnen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0042"/> jungen Gräfin verrieth, eine der Rossini'schen Lieblingsarien des Grafen, um die er Ida einige Male vergebens gebeten hatte. Madame Fioretta sang sie so, daß sie einen mit der ganzen italienischen Musik hätte versöhnen können. Die lang gehaltenen Töne des Adagio in der tieferen Stimmregion bebten und schwellten sich von der lieblichsten Zartheit bis zur unerhörtesten Kraft. Wie ein Spiel krystallener Glöckchen schlug dann das Rondo hinein, und der Abschluß, der im höchsten Sopran lag, ließ die Prachtstimme der Sängerin ihren ganzen Reichthum entfalten. Kein höherer Geist war in dieser Leistung, aber ein sinnlicher Zauber, der auch den ärgsten Rigoristen auf Augenblicke blenden und berücken mußte.</p><lb/> <p>Ida wußte Alles, was in Selvar jetzt vorging als wäre sie zugegen; was er sagen würde, mit welchem Blick er jetzt nach den Lippen der schönen Sängerin hinlauschte. Sie bog sich über das Geländer und ließ die Thränen in den Fluß hinabtropfen. Am liebsten hätte sie selbst sich hinuntergestürzt. Das Wasser rauschte munter vorwärts, drüben hörte sie ein neues Vorspiel, sie wollte nicht länger horchen; rasch wandte sie sich und ging durch die Dunkelheit der Stadt zu.</p><lb/> <p>Nach einer unsäglich bittern Nacht brachte ihr der erste Sonnenblick den Entschluß, der sie aus ihrer Seelen-Erschöpfung endlich errettete. Sie ordnete Alles zur Abreise, wohin, wußte sie noch nicht. Erst als sie durch eine schriftliche Anzeige an ihre Schülerinnen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0042]
jungen Gräfin verrieth, eine der Rossini'schen Lieblingsarien des Grafen, um die er Ida einige Male vergebens gebeten hatte. Madame Fioretta sang sie so, daß sie einen mit der ganzen italienischen Musik hätte versöhnen können. Die lang gehaltenen Töne des Adagio in der tieferen Stimmregion bebten und schwellten sich von der lieblichsten Zartheit bis zur unerhörtesten Kraft. Wie ein Spiel krystallener Glöckchen schlug dann das Rondo hinein, und der Abschluß, der im höchsten Sopran lag, ließ die Prachtstimme der Sängerin ihren ganzen Reichthum entfalten. Kein höherer Geist war in dieser Leistung, aber ein sinnlicher Zauber, der auch den ärgsten Rigoristen auf Augenblicke blenden und berücken mußte.
Ida wußte Alles, was in Selvar jetzt vorging als wäre sie zugegen; was er sagen würde, mit welchem Blick er jetzt nach den Lippen der schönen Sängerin hinlauschte. Sie bog sich über das Geländer und ließ die Thränen in den Fluß hinabtropfen. Am liebsten hätte sie selbst sich hinuntergestürzt. Das Wasser rauschte munter vorwärts, drüben hörte sie ein neues Vorspiel, sie wollte nicht länger horchen; rasch wandte sie sich und ging durch die Dunkelheit der Stadt zu.
Nach einer unsäglich bittern Nacht brachte ihr der erste Sonnenblick den Entschluß, der sie aus ihrer Seelen-Erschöpfung endlich errettete. Sie ordnete Alles zur Abreise, wohin, wußte sie noch nicht. Erst als sie durch eine schriftliche Anzeige an ihre Schülerinnen
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/42>, abgerufen am 27.07.2024. |