die Worte aussprach: "Die Scheune auch?" Und als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, den Umstehenden er- zählte: sie habe eben einen Geist gesehen, der zu ihr gespro- chen habe: das Haus muß weg! und sie habe darauf ge- fragt: die Scheune auch? Nie hatte sie zuvor eine Idee dieser Art gehabt, es war noch nichts Außerordentliches vor- gefallen, es hatte noch Niemand etwas dieser Art gespro- chen. Diese Idee also, daß das Haus weg müsse, ist nicht allmählig in ihr entstanden, und zuletzt zur fixen Idee ge- worden, sondern wurde plötzlich von ihr ausgesprochen, und wie sie behauptete, durch diese äußere Veranlassung hervorgebracht. Wie diese Idee in diesem Moment nach psychologischen Gesetzen entstanden seyn sollte, läßt sich nicht erklären. Eben so hatte sie nie die Idee, der Mönch wollte durch sie erlöst werden, sondern der weiße Geist, und eben so wenig hatte sie im wachen Zustand je davon ge- sprochen oder daran gedacht, daß sie von dem Mönch be- sessen sey, -- es war abermals keine Chimäre, keine fixe Idee, welche sich allmählig gebildet hätte, sondern erst als sie in den bezeichneten krankhaften Zustand verfiel, sprach der Mönch aus ihr, während sie beim Erwachen nichts da- von wußte, und also diese Idee nicht hatte. Eben so we- nig kann wohl das Aufhören ihres Zustandes psychologisch daraus erklärt werden, wie es von der Redaktion geschieht, daß die fixe Idee des Mädchens ihren Kreislauf vollbracht hatte, und ihr Genüge geleistet worden sey; denn wie hätte sie sonst schon ein Jahr zuvor den 6. Merz als den entschei- denden Tag bestimmen können? Wäre dies auch nur Idee gewesen, wie hätte sie denn entstehen können? woher hätte sie so lange vorher wissen können, daß gerade an diesem Tag ein Uebel aufhören würde, das alle ärztliche Hülfe nicht zu entfernen vermochte! Mir scheint sogar, man habe diese psychologischen Erklärungen, diese Voraussetzungen nicht einmal nöthig, da sie auf jeden Fall unzulänglich sind. Aus den Wirkungen der Phantasie, aus der Beschäftigung mit solchen Vorstellungen lassen sich ja diese gewaltsamen
Kerner, über Besessenseyn. 5
die Worte ausſprach: „Die Scheune auch?“ Und als ſie ſich von dem Schrecken erholt hatte, den Umſtehenden er- zählte: ſie habe eben einen Geiſt geſehen, der zu ihr geſpro- chen habe: das Haus muß weg! und ſie habe darauf ge- fragt: die Scheune auch? Nie hatte ſie zuvor eine Idee dieſer Art gehabt, es war noch nichts Außerordentliches vor- gefallen, es hatte noch Niemand etwas dieſer Art geſpro- chen. Dieſe Idee alſo, daß das Haus weg müſſe, iſt nicht allmählig in ihr entſtanden, und zuletzt zur fixen Idee ge- worden, ſondern wurde plötzlich von ihr ausgeſprochen, und wie ſie behauptete, durch dieſe äußere Veranlaſſung hervorgebracht. Wie dieſe Idee in dieſem Moment nach pſychologiſchen Geſetzen entſtanden ſeyn ſollte, läßt ſich nicht erklären. Eben ſo hatte ſie nie die Idee, der Mönch wollte durch ſie erlöst werden, ſondern der weiße Geiſt, und eben ſo wenig hatte ſie im wachen Zuſtand je davon ge- ſprochen oder daran gedacht, daß ſie von dem Mönch be- ſeſſen ſey, — es war abermals keine Chimäre, keine fixe Idee, welche ſich allmählig gebildet hätte, ſondern erſt als ſie in den bezeichneten krankhaften Zuſtand verfiel, ſprach der Mönch aus ihr, während ſie beim Erwachen nichts da- von wußte, und alſo dieſe Idee nicht hatte. Eben ſo we- nig kann wohl das Aufhören ihres Zuſtandes pſychologiſch daraus erklärt werden, wie es von der Redaktion geſchieht, daß die fixe Idee des Mädchens ihren Kreislauf vollbracht hatte, und ihr Genüge geleiſtet worden ſey; denn wie hätte ſie ſonſt ſchon ein Jahr zuvor den 6. Merz als den entſchei- denden Tag beſtimmen können? Wäre dies auch nur Idee geweſen, wie hätte ſie denn entſtehen können? woher hätte ſie ſo lange vorher wiſſen können, daß gerade an dieſem Tag ein Uebel aufhören würde, das alle ärztliche Hülfe nicht zu entfernen vermochte! Mir ſcheint ſogar, man habe dieſe pſychologiſchen Erklärungen, dieſe Vorausſetzungen nicht einmal nöthig, da ſie auf jeden Fall unzulänglich ſind. Aus den Wirkungen der Phantaſie, aus der Beſchäftigung mit ſolchen Vorſtellungen laſſen ſich ja dieſe gewaltſamen
Kerner, über Beſeſſenſeyn. 5
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die Worte ausſprach: „Die Scheune auch?“ Und als ſie
ſich von dem Schrecken erholt hatte, den Umſtehenden er-
zählte: ſie habe eben einen Geiſt geſehen, der zu ihr geſpro-
chen habe: das Haus muß weg! und ſie habe darauf ge-
fragt: die Scheune auch? Nie hatte ſie zuvor eine Idee
dieſer Art gehabt, es war noch nichts Außerordentliches vor-
gefallen, es hatte noch Niemand etwas dieſer Art geſpro-
chen. Dieſe Idee alſo, daß das Haus weg müſſe, iſt nicht
allmählig in ihr entſtanden, und zuletzt zur fixen Idee ge-
worden, ſondern wurde plötzlich von ihr ausgeſprochen,
und wie ſie behauptete, durch dieſe äußere Veranlaſſung
hervorgebracht. Wie dieſe Idee in dieſem Moment nach
pſychologiſchen Geſetzen entſtanden ſeyn ſollte, läßt ſich nicht
erklären. Eben ſo hatte ſie nie die Idee, der Mönch wollte
durch ſie erlöst werden, ſondern der weiße Geiſt, und
eben ſo wenig hatte ſie im wachen Zuſtand je davon ge-
ſprochen oder daran gedacht, daß ſie von dem Mönch be-
ſeſſen ſey, — es war abermals keine Chimäre, keine fixe
Idee, welche ſich allmählig gebildet hätte, ſondern erſt als
ſie in den bezeichneten krankhaften Zuſtand verfiel, ſprach
der Mönch aus ihr, während ſie beim Erwachen nichts da-
von wußte, und alſo dieſe Idee nicht hatte. Eben ſo we-
nig kann wohl das Aufhören ihres Zuſtandes pſychologiſch
daraus erklärt werden, wie es von der Redaktion geſchieht,
daß die fixe Idee des Mädchens ihren Kreislauf vollbracht
hatte, und ihr Genüge geleiſtet worden ſey; denn wie hätte
ſie ſonſt ſchon ein Jahr zuvor den 6. Merz als den entſchei-
denden Tag beſtimmen können? Wäre dies auch nur Idee
geweſen, wie hätte ſie denn entſtehen können? woher hätte
ſie ſo lange vorher wiſſen können, daß gerade an dieſem
Tag ein Uebel aufhören würde, das alle ärztliche Hülfe
nicht zu entfernen vermochte! Mir ſcheint ſogar, man habe
dieſe pſychologiſchen Erklärungen, dieſe Vorausſetzungen nicht
einmal nöthig, da ſie auf jeden Fall unzulänglich ſind.
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/79>, abgerufen am 07.07.2024.
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