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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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beglückt, wie zwei ebenbürtige Wesen in stiller Heimlich¬
keit es nur sein konnten; Regine nur die Gegenwart
genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich
von frohen Ahnungen dessen bewegt, was noch kommen
mochte. Als er sie eines Abends bei guter Gelegenheit
überredete, nur der Eltern wegen der ersehnten Hülfe zu
gedenken, und sie zwang, zu schreiben und sogleich die
nöthige Baarschaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein
erschien, da fügte sie sich mit geheimer Zärtlichkeit des
Herzens nicht aus Eigennutz, sondern weil es von ihm
und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den
Brief, den sie schrieb, und sah, daß die Sätze allerdings
kurz und mager waren, wie eben das Volk schreibt; allein
er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Recht¬
schreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn
und Gebrauch der Sprache.

"Sie schreiben ja wie ein Actuarius!" sagte er, indem
ein Strahl von Freude seine Augen erhellte.

"O wir hatten einen guten Schulmeister!" erwiderte
sie froh über sein Lob; "aber das ist nichts, ich habe
eine Schwester, die schreibt im Umseh'n ganze Briefe voll
Thorheiten ohne alle Fehler; wenn sie nur sonst recht
thäte!" schloß sie mit einem Seufzer. Wie sich später
erwies, reiste nämlich die Schwester auf Liebschaften herum
und stellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch
war sie schon einmal mit einem kleinen Kinde heim¬
gekommen.

beglückt, wie zwei ebenbürtige Weſen in ſtiller Heimlich¬
keit es nur ſein konnten; Regine nur die Gegenwart
genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich
von frohen Ahnungen deſſen bewegt, was noch kommen
mochte. Als er ſie eines Abends bei guter Gelegenheit
überredete, nur der Eltern wegen der erſehnten Hülfe zu
gedenken, und ſie zwang, zu ſchreiben und ſogleich die
nöthige Baarſchaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein
erſchien, da fügte ſie ſich mit geheimer Zärtlichkeit des
Herzens nicht aus Eigennutz, ſondern weil es von ihm
und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den
Brief, den ſie ſchrieb, und ſah, daß die Sätze allerdings
kurz und mager waren, wie eben das Volk ſchreibt; allein
er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Recht¬
ſchreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn
und Gebrauch der Sprache.

„Sie ſchreiben ja wie ein Actuarius!“ ſagte er, indem
ein Strahl von Freude ſeine Augen erhellte.

„O wir hatten einen guten Schulmeiſter!“ erwiderte
ſie froh über ſein Lob; „aber das iſt nichts, ich habe
eine Schweſter, die ſchreibt im Umſeh'n ganze Briefe voll
Thorheiten ohne alle Fehler; wenn ſie nur ſonſt recht
thäte!“ ſchloß ſie mit einem Seufzer. Wie ſich ſpäter
erwies, reiſte nämlich die Schweſter auf Liebſchaften herum
und ſtellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch
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gekommen.

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[87/0097] beglückt, wie zwei ebenbürtige Weſen in ſtiller Heimlich¬ keit es nur ſein konnten; Regine nur die Gegenwart genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich von frohen Ahnungen deſſen bewegt, was noch kommen mochte. Als er ſie eines Abends bei guter Gelegenheit überredete, nur der Eltern wegen der erſehnten Hülfe zu gedenken, und ſie zwang, zu ſchreiben und ſogleich die nöthige Baarſchaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein erſchien, da fügte ſie ſich mit geheimer Zärtlichkeit des Herzens nicht aus Eigennutz, ſondern weil es von ihm und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den Brief, den ſie ſchrieb, und ſah, daß die Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk ſchreibt; allein er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Recht¬ ſchreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn und Gebrauch der Sprache. „Sie ſchreiben ja wie ein Actuarius!“ ſagte er, indem ein Strahl von Freude ſeine Augen erhellte. „O wir hatten einen guten Schulmeiſter!“ erwiderte ſie froh über ſein Lob; „aber das iſt nichts, ich habe eine Schweſter, die ſchreibt im Umſeh'n ganze Briefe voll Thorheiten ohne alle Fehler; wenn ſie nur ſonſt recht thäte!“ ſchloß ſie mit einem Seufzer. Wie ſich ſpäter erwies, reiſte nämlich die Schweſter auf Liebſchaften herum und ſtellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch war ſie ſchon einmal mit einem kleinen Kinde heim¬ gekommen.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/97>, abgerufen am 24.11.2024.