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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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So wurde er schon vor dem ersten Capitel seiner Romane
zurückgeschreckt und trug nichts davon, als den Verdruß
einiger Klatschereien. Das beweist freilich, daß er eine
ordentliche Leidenschaft nicht erfahren hatte; sonst hätte
er sich durch solche Schwächen, die dem braven Bürger¬
thum hie und da ankleben, nicht vertreiben lassen. Nichts
desto minder empfand er Verdruß und setzte sich, Alles
aus dem Sinn schlagend, im ausschließlichen Umgange
mit Männern fest, die sich auf einander angewiesen sahen.

Um diese Zeit, es mögen etwa zwölf Jahre her sein,
sah ich Erwin Altenauer in meiner damaligen Heimat¬
stadt, wenn man den Sitz einer Hochschule so nennen
darf, wo der Vater als Lehrer hinberufen worden ist,
sich ein Haus gekauft und die Tochter des Ortsbanquiers
geheirathet hat. Ich selbst war kaum zwanzig Jahre
alt, obgleich schon seit zwei Jahren Student, so daß ich
die Gesellschaft des Deutsch-Amerikaners im Hause meiner
Eltern und anderwärts zuweilen genoß. Es war ein
nicht kleiner fester Mann mit einem blonden Kopf und
trug nur neue Hüte, aber stets so, als ob es alte Hüte
wären. Nur ein paar Sommermonate wollte er in
unserer Stadt zubringen, um namentlich eine gewisse
Partie älterer Geschichte anzuhören, die ein berühmter
Historiker vortrug, und unter dessen Aufsicht die Urkunden
zu studieren.

In einem stattlichen Hause, das indessen nur zwei
Familien bewohnten, hatte er bei der einen derselben

So wurde er ſchon vor dem erſten Capitel ſeiner Romane
zurückgeſchreckt und trug nichts davon, als den Verdruß
einiger Klatſchereien. Das beweiſt freilich, daß er eine
ordentliche Leidenſchaft nicht erfahren hatte; ſonſt hätte
er ſich durch ſolche Schwächen, die dem braven Bürger¬
thum hie und da ankleben, nicht vertreiben laſſen. Nichts
deſto minder empfand er Verdruß und ſetzte ſich, Alles
aus dem Sinn ſchlagend, im ausſchließlichen Umgange
mit Männern feſt, die ſich auf einander angewieſen ſahen.

Um dieſe Zeit, es mögen etwa zwölf Jahre her ſein,
ſah ich Erwin Altenauer in meiner damaligen Heimat¬
ſtadt, wenn man den Sitz einer Hochſchule ſo nennen
darf, wo der Vater als Lehrer hinberufen worden iſt,
ſich ein Haus gekauft und die Tochter des Ortsbanquiers
geheirathet hat. Ich ſelbſt war kaum zwanzig Jahre
alt, obgleich ſchon ſeit zwei Jahren Student, ſo daß ich
die Geſellſchaft des Deutſch-Amerikaners im Hauſe meiner
Eltern und anderwärts zuweilen genoß. Es war ein
nicht kleiner feſter Mann mit einem blonden Kopf und
trug nur neue Hüte, aber ſtets ſo, als ob es alte Hüte
wären. Nur ein paar Sommermonate wollte er in
unſerer Stadt zubringen, um namentlich eine gewiſſe
Partie älterer Geſchichte anzuhören, die ein berühmter
Hiſtoriker vortrug, und unter deſſen Aufſicht die Urkunden
zu ſtudieren.

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[73/0083] So wurde er ſchon vor dem erſten Capitel ſeiner Romane zurückgeſchreckt und trug nichts davon, als den Verdruß einiger Klatſchereien. Das beweiſt freilich, daß er eine ordentliche Leidenſchaft nicht erfahren hatte; ſonſt hätte er ſich durch ſolche Schwächen, die dem braven Bürger¬ thum hie und da ankleben, nicht vertreiben laſſen. Nichts deſto minder empfand er Verdruß und ſetzte ſich, Alles aus dem Sinn ſchlagend, im ausſchließlichen Umgange mit Männern feſt, die ſich auf einander angewieſen ſahen. Um dieſe Zeit, es mögen etwa zwölf Jahre her ſein, ſah ich Erwin Altenauer in meiner damaligen Heimat¬ ſtadt, wenn man den Sitz einer Hochſchule ſo nennen darf, wo der Vater als Lehrer hinberufen worden iſt, ſich ein Haus gekauft und die Tochter des Ortsbanquiers geheirathet hat. Ich ſelbſt war kaum zwanzig Jahre alt, obgleich ſchon ſeit zwei Jahren Student, ſo daß ich die Geſellſchaft des Deutſch-Amerikaners im Hauſe meiner Eltern und anderwärts zuweilen genoß. Es war ein nicht kleiner feſter Mann mit einem blonden Kopf und trug nur neue Hüte, aber ſtets ſo, als ob es alte Hüte wären. Nur ein paar Sommermonate wollte er in unſerer Stadt zubringen, um namentlich eine gewiſſe Partie älterer Geſchichte anzuhören, die ein berühmter Hiſtoriker vortrug, und unter deſſen Aufſicht die Urkunden zu ſtudieren. In einem ſtattlichen Hauſe, das indeſſen nur zwei Familien bewohnten, hatte er bei der einen derſelben

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/83>, abgerufen am 25.11.2024.