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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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der größeren Hauptstädte war. Mit nicht geringer Er¬
wartung segelte er anher, vorzüglich auch auf das schönere
Geschlecht in den deutschen Bundesstaaten begierig; denn
wenn wir germanischen Männer uns mit Eifer den Ruf
ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, so versahen wir
wiederum unsere Frauen mit dem Ruhm einer merk¬
würdigen Gemüthstiefe und reicher Herzensbildung, was
in der Ferne gar lieblich und Sehnsucht erweckend funkelt
gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem
Glanze dieses Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies
von seinen Verwandten scherzweise ermahnt worden, eine
recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über
den Ocean zurückzubringen.

Er fühlte sich auch bald so heimisch, wie wenn sein
Vater schon ein Jenenser Student gewesen wäre; doch
begab sich das nur in der Männerwelt, und sobald die
Gesellschaft sich aus beiden Geschlechtern mischte, haperte
das Ding, Sei es nun, daß, wie in sonst gesegneten
Weinbergen es gewisse Schattenstellen giebt, wo die
Trauben nicht ganz so süß werden wie an der Sonnen¬
seite, er in eine etwas ungünstige Gegend gerathen war,
oder sei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die
rechte Traubenkenntniß mitgebracht, genug, es schienen
ihm zusammengesetzte Gebräuche zu walten, die zu ent¬
wirren er sich nicht ermuntert fand. Erwin sowol wie
die übrigen Gesandtschaftsmitglieder waren von einfachen
Sitten, klar und bestimmt in ihren Worten und ohne

der größeren Hauptſtädte war. Mit nicht geringer Er¬
wartung ſegelte er anher, vorzüglich auch auf das ſchönere
Geſchlecht in den deutſchen Bundesſtaaten begierig; denn
wenn wir germaniſchen Männer uns mit Eifer den Ruf
ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, ſo verſahen wir
wiederum unſere Frauen mit dem Ruhm einer merk¬
würdigen Gemüthstiefe und reicher Herzensbildung, was
in der Ferne gar lieblich und Sehnſucht erweckend funkelt
gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem
Glanze dieſes Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies
von ſeinen Verwandten ſcherzweiſe ermahnt worden, eine
recht ſinnige und muſtergültige deutſche Frauengeſtalt über
den Ocean zurückzubringen.

Er fühlte ſich auch bald ſo heimiſch, wie wenn ſein
Vater ſchon ein Jenenſer Student geweſen wäre; doch
begab ſich das nur in der Männerwelt, und ſobald die
Geſellſchaft ſich aus beiden Geſchlechtern miſchte, haperte
das Ding, Sei es nun, daß, wie in ſonſt geſegneten
Weinbergen es gewiſſe Schattenſtellen giebt, wo die
Trauben nicht ganz ſo ſüß werden wie an der Sonnen¬
ſeite, er in eine etwas ungünſtige Gegend gerathen war,
oder ſei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die
rechte Traubenkenntniß mitgebracht, genug, es ſchienen
ihm zuſammengeſetzte Gebräuche zu walten, die zu ent¬
wirren er ſich nicht ermuntert fand. Erwin ſowol wie
die übrigen Geſandtſchaftsmitglieder waren von einfachen
Sitten, klar und beſtimmt in ihren Worten und ohne

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[69/0079] der größeren Hauptſtädte war. Mit nicht geringer Er¬ wartung ſegelte er anher, vorzüglich auch auf das ſchönere Geſchlecht in den deutſchen Bundesſtaaten begierig; denn wenn wir germaniſchen Männer uns mit Eifer den Ruf ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, ſo verſahen wir wiederum unſere Frauen mit dem Ruhm einer merk¬ würdigen Gemüthstiefe und reicher Herzensbildung, was in der Ferne gar lieblich und Sehnſucht erweckend funkelt gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem Glanze dieſes Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies von ſeinen Verwandten ſcherzweiſe ermahnt worden, eine recht ſinnige und muſtergültige deutſche Frauengeſtalt über den Ocean zurückzubringen. Er fühlte ſich auch bald ſo heimiſch, wie wenn ſein Vater ſchon ein Jenenſer Student geweſen wäre; doch begab ſich das nur in der Männerwelt, und ſobald die Geſellſchaft ſich aus beiden Geſchlechtern miſchte, haperte das Ding, Sei es nun, daß, wie in ſonſt geſegneten Weinbergen es gewiſſe Schattenſtellen giebt, wo die Trauben nicht ganz ſo ſüß werden wie an der Sonnen¬ ſeite, er in eine etwas ungünſtige Gegend gerathen war, oder ſei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die rechte Traubenkenntniß mitgebracht, genug, es ſchienen ihm zuſammengeſetzte Gebräuche zu walten, die zu ent¬ wirren er ſich nicht ermuntert fand. Erwin ſowol wie die übrigen Geſandtſchaftsmitglieder waren von einfachen Sitten, klar und beſtimmt in ihren Worten und ohne

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/79>, abgerufen am 26.11.2024.