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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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legenen und verständigen Mannes befinden würde, ja
sogar, daß ein solcher bei gehöriger Muße seine Freude
daran finden könnte, mit Geduld und Geschicklichkeit das
Reis einer so schönen Rebe an den Stab zu binden und
gerade zu ziehen."

"Edler Gärtner!" ließ sich hier Lucia vernehmen;
"aber die Schönheit geben Sie also nicht so leicht Preis,
wie den Verstand?"

"Die Schönheit?" sagte er; "das ist nicht das rich¬
tige Wort, das hier zu brauchen ist. Was ich als die
erste und letzte Hauptsache in den bewußten Angelegen¬
heiten betrachte, ist ein gründliches persönliches Wohl¬
gefallen, nämlich daß das Gesicht des Einen dem Andern
ausnehmend gut gefalle. Findet dies Phänomen statt, so
kann man Berge versetzen und jedes Verhältniß wird da¬
durch möglich gemacht."

"Diese Entdeckung," versetzte Lucia, "scheint nicht übel,
aber nicht ganz neu zu sein und ungefähr zu besagen,
daß ein wenig Verliebtheit beim Abschluß eines Ehe¬
bündnisses nicht gerade etwas schade!"

Durch diesen Spott wurde Reinhart von Neuem zur
Unbotmäßigkeit aufgestachelt, so daß er fortfuhr: "Ihre
Muthmaßung ist sogar richtiger, als Sie im Augenblick
zu ahnen belieben; dennoch erreicht sie nicht ganz die
Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft
das einseitige Wirken der Einbildungskraft, irgend eine
Täuschung, ja es sind schon Leute verliebt gewesen, ohne

legenen und verſtändigen Mannes befinden würde, ja
ſogar, daß ein ſolcher bei gehöriger Muße ſeine Freude
daran finden könnte, mit Geduld und Geſchicklichkeit das
Reis einer ſo ſchönen Rebe an den Stab zu binden und
gerade zu ziehen.“

„Edler Gärtner!“ ließ ſich hier Lucia vernehmen;
„aber die Schönheit geben Sie alſo nicht ſo leicht Preis,
wie den Verſtand?“

„Die Schönheit?“ ſagte er; „das iſt nicht das rich¬
tige Wort, das hier zu brauchen iſt. Was ich als die
erſte und letzte Hauptſache in den bewußten Angelegen¬
heiten betrachte, iſt ein gründliches perſönliches Wohl¬
gefallen, nämlich daß das Geſicht des Einen dem Andern
ausnehmend gut gefalle. Findet dies Phänomen ſtatt, ſo
kann man Berge verſetzen und jedes Verhältniß wird da¬
durch möglich gemacht.“

„Dieſe Entdeckung,“ verſetzte Lucia, „ſcheint nicht übel,
aber nicht ganz neu zu ſein und ungefähr zu beſagen,
daß ein wenig Verliebtheit beim Abſchluß eines Ehe¬
bündniſſes nicht gerade etwas ſchade!“

Durch dieſen Spott wurde Reinhart von Neuem zur
Unbotmäßigkeit aufgeſtachelt, ſo daß er fortfuhr: „Ihre
Muthmaßung iſt ſogar richtiger, als Sie im Augenblick
zu ahnen belieben; dennoch erreicht ſie nicht ganz die
Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft
das einſeitige Wirken der Einbildungskraft, irgend eine
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[64/0074] legenen und verſtändigen Mannes befinden würde, ja ſogar, daß ein ſolcher bei gehöriger Muße ſeine Freude daran finden könnte, mit Geduld und Geſchicklichkeit das Reis einer ſo ſchönen Rebe an den Stab zu binden und gerade zu ziehen.“ „Edler Gärtner!“ ließ ſich hier Lucia vernehmen; „aber die Schönheit geben Sie alſo nicht ſo leicht Preis, wie den Verſtand?“ „Die Schönheit?“ ſagte er; „das iſt nicht das rich¬ tige Wort, das hier zu brauchen iſt. Was ich als die erſte und letzte Hauptſache in den bewußten Angelegen¬ heiten betrachte, iſt ein gründliches perſönliches Wohl¬ gefallen, nämlich daß das Geſicht des Einen dem Andern ausnehmend gut gefalle. Findet dies Phänomen ſtatt, ſo kann man Berge verſetzen und jedes Verhältniß wird da¬ durch möglich gemacht.“ „Dieſe Entdeckung,“ verſetzte Lucia, „ſcheint nicht übel, aber nicht ganz neu zu ſein und ungefähr zu beſagen, daß ein wenig Verliebtheit beim Abſchluß eines Ehe¬ bündniſſes nicht gerade etwas ſchade!“ Durch dieſen Spott wurde Reinhart von Neuem zur Unbotmäßigkeit aufgeſtachelt, ſo daß er fortfuhr: „Ihre Muthmaßung iſt ſogar richtiger, als Sie im Augenblick zu ahnen belieben; dennoch erreicht ſie nicht ganz die Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft das einſeitige Wirken der Einbildungskraft, irgend eine Täuſchung, ja es ſind ſchon Leute verliebt geweſen, ohne

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/74>, abgerufen am 26.11.2024.