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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Blätter sondern mit fester Hand auf große Bogen von
dickem Packpapier gezeichnet, und Reinhart wurde von
allem, was er sah, zu einer unfreiwilligen Achtung und
Verwunderung gebracht. Noch mehr verwunderte er sich,
als er in einer Fensterecke noch einen kleineren Tisch
gewahrte, wiederum mit Büchern und Schriften bedeckt,
nämlich mit Sprachlehren und Wörterbüchern und ge¬
schriebenen Heften, die mühselig mit Vocabeln und Ueber¬
setzungsversuchen angefüllt waren. Sie schien nicht nur
Altdeutsch und Altfranzösisch, sondern auch Holländisch,
Portugiesisch und Spanisch zu betreiben, Dinge, die
Reinhart nur zum kleineren Theile verstand und auch da
mangelhaft; und die Sache berührte ihn um so seltsamer,
als es sich in dieser vornehmen Einsamkeit schwerlich um
den Gewerbefleiß eines sogenannten Blaustrumpfes handelte.

Wie er so mitten in dem Saale stand, beinah eifer¬
süchtig auf all' die ungewöhnlichen und im Grunde doch
anspruchslosen Studien, ungewiß, wie er sich dazu ver¬
halten solle, trat Lucie herein und entschuldigte sich, daß
sie ihn so lange allein gelassen. Sie habe seine Gegen¬
wart dem kranken Oheim gemeldet, der bedauere, ihn jetzt
nicht sehen zu können, jedoch die Versäumniß noch gut
zu machen hoffe. Als Reinhart die schön gereifte und
frische Erscheinung wieder erblickte, trat ihm unwillkürlich
die Frage, die sein Inneres neugierig bewegte, auf die
Lippen, und er rief bedachtlos, indem er sich im Saale
umsah: "Warum treiben Sie alle diese Dinge?"

Blätter ſondern mit feſter Hand auf große Bogen von
dickem Packpapier gezeichnet, und Reinhart wurde von
allem, was er ſah, zu einer unfreiwilligen Achtung und
Verwunderung gebracht. Noch mehr verwunderte er ſich,
als er in einer Fenſterecke noch einen kleineren Tiſch
gewahrte, wiederum mit Büchern und Schriften bedeckt,
nämlich mit Sprachlehren und Wörterbüchern und ge¬
ſchriebenen Heften, die mühſelig mit Vocabeln und Ueber¬
ſetzungsverſuchen angefüllt waren. Sie ſchien nicht nur
Altdeutſch und Altfranzöſiſch, ſondern auch Holländiſch,
Portugieſiſch und Spaniſch zu betreiben, Dinge, die
Reinhart nur zum kleineren Theile verſtand und auch da
mangelhaft; und die Sache berührte ihn um ſo ſeltſamer,
als es ſich in dieſer vornehmen Einſamkeit ſchwerlich um
den Gewerbefleiß eines ſogenannten Blauſtrumpfes handelte.

Wie er ſo mitten in dem Saale ſtand, beinah eifer¬
ſüchtig auf all' die ungewöhnlichen und im Grunde doch
anſpruchsloſen Studien, ungewiß, wie er ſich dazu ver¬
halten ſolle, trat Lucie herein und entſchuldigte ſich, daß
ſie ihn ſo lange allein gelaſſen. Sie habe ſeine Gegen¬
wart dem kranken Oheim gemeldet, der bedauere, ihn jetzt
nicht ſehen zu können, jedoch die Verſäumniß noch gut
zu machen hoffe. Als Reinhart die ſchön gereifte und
friſche Erſcheinung wieder erblickte, trat ihm unwillkürlich
die Frage, die ſein Inneres neugierig bewegte, auf die
Lippen, und er rief bedachtlos, indem er ſich im Saale
umſah: „Warum treiben Sie alle dieſe Dinge?“

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[42/0052] Blätter ſondern mit feſter Hand auf große Bogen von dickem Packpapier gezeichnet, und Reinhart wurde von allem, was er ſah, zu einer unfreiwilligen Achtung und Verwunderung gebracht. Noch mehr verwunderte er ſich, als er in einer Fenſterecke noch einen kleineren Tiſch gewahrte, wiederum mit Büchern und Schriften bedeckt, nämlich mit Sprachlehren und Wörterbüchern und ge¬ ſchriebenen Heften, die mühſelig mit Vocabeln und Ueber¬ ſetzungsverſuchen angefüllt waren. Sie ſchien nicht nur Altdeutſch und Altfranzöſiſch, ſondern auch Holländiſch, Portugieſiſch und Spaniſch zu betreiben, Dinge, die Reinhart nur zum kleineren Theile verſtand und auch da mangelhaft; und die Sache berührte ihn um ſo ſeltſamer, als es ſich in dieſer vornehmen Einſamkeit ſchwerlich um den Gewerbefleiß eines ſogenannten Blauſtrumpfes handelte. Wie er ſo mitten in dem Saale ſtand, beinah eifer¬ ſüchtig auf all' die ungewöhnlichen und im Grunde doch anſpruchsloſen Studien, ungewiß, wie er ſich dazu ver¬ halten ſolle, trat Lucie herein und entſchuldigte ſich, daß ſie ihn ſo lange allein gelaſſen. Sie habe ſeine Gegen¬ wart dem kranken Oheim gemeldet, der bedauere, ihn jetzt nicht ſehen zu können, jedoch die Verſäumniß noch gut zu machen hoffe. Als Reinhart die ſchön gereifte und friſche Erſcheinung wieder erblickte, trat ihm unwillkürlich die Frage, die ſein Inneres neugierig bewegte, auf die Lippen, und er rief bedachtlos, indem er ſich im Saale umſah: „Warum treiben Sie alle dieſe Dinge?“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/52>, abgerufen am 24.11.2024.