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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Herzen gelebt hatte. Ein tiefer Ernst bemächtigte sich meiner
in allem, was ich that, im Lernen und Arbeiten, da ich
alles auf ihn und sein Wohlgefallen bezog, und ich kann
wohl sagen, daß dies wunderlich ernsthafte Wesen mir in
meiner damaligen Existenz Vater und Mutter, Lehrer und
Führer war, wenigstens das alles einigermaßen ersetzte.

Und ich verschwieg die geheime Triebfeder meiner
jungen Jugend unverbrüchlich; nie erwähnte ich derselben
mit einem Worte und nannte den Namen so wenig, als
wäre er nicht in der Welt. Wurde aber einmal von
Leodegar gesprochen, so hörte ich aufmerksam zu und wich
nicht vom Orte, so lang es dauerte. Eines Tages hörte
ich ihn als phantastisch, gewaltsam, rechthaberisch und ehr¬
geizig schildern in Verbindung mit dem Zugeständnisse,
daß er von großen Gaben sei. Weil ich aber den Sprach¬
gebrauch dieser Worte zum Theil aus mangelnder Er¬
fahrung mißverstand, zum Theil aus Widerspruch und
Parteilichkeit umkehrte, so nahm ich phantastisch für
phantasievoll, gewaltsam für machtvoll; rechthaberisch ver¬
wechselte ich mit Recht liebend, und ehrgeizig galt mir so
viel wie von Ehre beseelt, als ruhmwürdige Gesinnung.
Das Bild wurde daher immer schöner und idealer in
meinem Herzen; mit ängstlichem Eifer strebte ich besser
und Leodegar's nicht ganz unwerth zu werden, und wenn
ich Fehler beging, so ruhte ich nicht, bis ich glaubte, sie
durch Reue und allerhand kleine gute Werke als gesühnt
betrachten zu dürfen.

Herzen gelebt hatte. Ein tiefer Ernſt bemächtigte ſich meiner
in allem, was ich that, im Lernen und Arbeiten, da ich
alles auf ihn und ſein Wohlgefallen bezog, und ich kann
wohl ſagen, daß dies wunderlich ernſthafte Weſen mir in
meiner damaligen Exiſtenz Vater und Mutter, Lehrer und
Führer war, wenigſtens das alles einigermaßen erſetzte.

Und ich verſchwieg die geheime Triebfeder meiner
jungen Jugend unverbrüchlich; nie erwähnte ich derſelben
mit einem Worte und nannte den Namen ſo wenig, als
wäre er nicht in der Welt. Wurde aber einmal von
Leodegar geſprochen, ſo hörte ich aufmerkſam zu und wich
nicht vom Orte, ſo lang es dauerte. Eines Tages hörte
ich ihn als phantaſtiſch, gewaltſam, rechthaberiſch und ehr¬
geizig ſchildern in Verbindung mit dem Zugeſtändniſſe,
daß er von großen Gaben ſei. Weil ich aber den Sprach¬
gebrauch dieſer Worte zum Theil aus mangelnder Er¬
fahrung mißverſtand, zum Theil aus Widerſpruch und
Parteilichkeit umkehrte, ſo nahm ich phantaſtiſch für
phantaſievoll, gewaltſam für machtvoll; rechthaberiſch ver¬
wechſelte ich mit Recht liebend, und ehrgeizig galt mir ſo
viel wie von Ehre beſeelt, als ruhmwürdige Geſinnung.
Das Bild wurde daher immer ſchöner und idealer in
meinem Herzen; mit ängſtlichem Eifer ſtrebte ich beſſer
und Leodegar's nicht ganz unwerth zu werden, und wenn
ich Fehler beging, ſo ruhte ich nicht, bis ich glaubte, ſie
durch Reue und allerhand kleine gute Werke als geſühnt
betrachten zu dürfen.

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[383/0393] Herzen gelebt hatte. Ein tiefer Ernſt bemächtigte ſich meiner in allem, was ich that, im Lernen und Arbeiten, da ich alles auf ihn und ſein Wohlgefallen bezog, und ich kann wohl ſagen, daß dies wunderlich ernſthafte Weſen mir in meiner damaligen Exiſtenz Vater und Mutter, Lehrer und Führer war, wenigſtens das alles einigermaßen erſetzte. Und ich verſchwieg die geheime Triebfeder meiner jungen Jugend unverbrüchlich; nie erwähnte ich derſelben mit einem Worte und nannte den Namen ſo wenig, als wäre er nicht in der Welt. Wurde aber einmal von Leodegar geſprochen, ſo hörte ich aufmerkſam zu und wich nicht vom Orte, ſo lang es dauerte. Eines Tages hörte ich ihn als phantaſtiſch, gewaltſam, rechthaberiſch und ehr¬ geizig ſchildern in Verbindung mit dem Zugeſtändniſſe, daß er von großen Gaben ſei. Weil ich aber den Sprach¬ gebrauch dieſer Worte zum Theil aus mangelnder Er¬ fahrung mißverſtand, zum Theil aus Widerſpruch und Parteilichkeit umkehrte, ſo nahm ich phantaſtiſch für phantaſievoll, gewaltſam für machtvoll; rechthaberiſch ver¬ wechſelte ich mit Recht liebend, und ehrgeizig galt mir ſo viel wie von Ehre beſeelt, als ruhmwürdige Geſinnung. Das Bild wurde daher immer ſchöner und idealer in meinem Herzen; mit ängſtlichem Eifer ſtrebte ich beſſer und Leodegar's nicht ganz unwerth zu werden, und wenn ich Fehler beging, ſo ruhte ich nicht, bis ich glaubte, ſie durch Reue und allerhand kleine gute Werke als geſühnt betrachten zu dürfen.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/393>, abgerufen am 25.11.2024.