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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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auch aus einer Anwandlung von Muthlosigkeit das einzige
Mal, wo es nothwendig für uns war, sie zu sagen. Gegen
Lust und Willen geht Einer mit Menschen von schlechtem
Rufe öffentlich spazieren und wird von einer ihm theueren
Person gesehen, die sich von ihm abwendet, und was der¬
gleichen Unstern mehr ist.

Wir haben schon von der westdeutschen Universitäts¬
stadt gesprochen, wo Sie geboren sind, Herr Reinhart.
Dort habe ich auch einmal als Student gelebt, zur Zeit,
als der erste Napoleon noch regierte und die Frauensleute
unter den Armen gegürtet waren. Ich sollte Jura studieren,
fand aber nicht viel Muße dazu, da ich einen Anführer
unter den Rauf- und Zechbrüdern vorstellte und sonst allerlei
Verworrenes zu treiben hatte. Von der politischen Noth
des Vaterlandes mit leidend, suchte ich Erleichterung in
aufgespannten Kraftgesinnungen und verzweifelt heroischem
Dasein, welches bald in ein halbkatholisches Romanzen¬
thum, bald in eine grübelnde Geisteskälte hinüberschillerte.
Ich war bald mehr ein aufgeklärter Mystiker, bald mehr
ein gläubiger Freigeist, alles natürlich ohne die entsprechen¬
den Kenntnisse zu pflegen, die mit solchen Richtungen
damals verbunden wurden. Nichts verstand ich ganz, als
die körperlichen Uebungen, Fechten, Reiten und Trinken,
letzteres nicht im Uebermaß, aber doch genug, um zuweilen
empfindsam zu werden und die moralischen Leiden der
Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen. Da war denn ein
Freund vonnöthen, der ohne Ueberhebung sein Herz dem

auch aus einer Anwandlung von Muthloſigkeit das einzige
Mal, wo es nothwendig für uns war, ſie zu ſagen. Gegen
Luſt und Willen geht Einer mit Menſchen von ſchlechtem
Rufe öffentlich ſpazieren und wird von einer ihm theueren
Perſon geſehen, die ſich von ihm abwendet, und was der¬
gleichen Unſtern mehr iſt.

Wir haben ſchon von der weſtdeutſchen Univerſitäts¬
ſtadt geſprochen, wo Sie geboren ſind, Herr Reinhart.
Dort habe ich auch einmal als Student gelebt, zur Zeit,
als der erſte Napoleon noch regierte und die Frauensleute
unter den Armen gegürtet waren. Ich ſollte Jura ſtudieren,
fand aber nicht viel Muße dazu, da ich einen Anführer
unter den Rauf- und Zechbrüdern vorſtellte und ſonſt allerlei
Verworrenes zu treiben hatte. Von der politiſchen Noth
des Vaterlandes mit leidend, ſuchte ich Erleichterung in
aufgeſpannten Kraftgeſinnungen und verzweifelt heroiſchem
Daſein, welches bald in ein halbkatholiſches Romanzen¬
thum, bald in eine grübelnde Geiſteskälte hinüberſchillerte.
Ich war bald mehr ein aufgeklärter Myſtiker, bald mehr
ein gläubiger Freigeiſt, alles natürlich ohne die entſprechen¬
den Kenntniſſe zu pflegen, die mit ſolchen Richtungen
damals verbunden wurden. Nichts verſtand ich ganz, als
die körperlichen Uebungen, Fechten, Reiten und Trinken,
letzteres nicht im Uebermaß, aber doch genug, um zuweilen
empfindſam zu werden und die moraliſchen Leiden der
Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen. Da war denn ein
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[220/0230] auch aus einer Anwandlung von Muthloſigkeit das einzige Mal, wo es nothwendig für uns war, ſie zu ſagen. Gegen Luſt und Willen geht Einer mit Menſchen von ſchlechtem Rufe öffentlich ſpazieren und wird von einer ihm theueren Perſon geſehen, die ſich von ihm abwendet, und was der¬ gleichen Unſtern mehr iſt. Wir haben ſchon von der weſtdeutſchen Univerſitäts¬ ſtadt geſprochen, wo Sie geboren ſind, Herr Reinhart. Dort habe ich auch einmal als Student gelebt, zur Zeit, als der erſte Napoleon noch regierte und die Frauensleute unter den Armen gegürtet waren. Ich ſollte Jura ſtudieren, fand aber nicht viel Muße dazu, da ich einen Anführer unter den Rauf- und Zechbrüdern vorſtellte und ſonſt allerlei Verworrenes zu treiben hatte. Von der politiſchen Noth des Vaterlandes mit leidend, ſuchte ich Erleichterung in aufgeſpannten Kraftgeſinnungen und verzweifelt heroiſchem Daſein, welches bald in ein halbkatholiſches Romanzen¬ thum, bald in eine grübelnde Geiſteskälte hinüberſchillerte. Ich war bald mehr ein aufgeklärter Myſtiker, bald mehr ein gläubiger Freigeiſt, alles natürlich ohne die entſprechen¬ den Kenntniſſe zu pflegen, die mit ſolchen Richtungen damals verbunden wurden. Nichts verſtand ich ganz, als die körperlichen Uebungen, Fechten, Reiten und Trinken, letzteres nicht im Uebermaß, aber doch genug, um zuweilen empfindſam zu werden und die moraliſchen Leiden der Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen. Da war denn ein Freund vonnöthen, der ohne Ueberhebung ſein Herz dem

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/230>, abgerufen am 25.11.2024.