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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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so hatte er sich darin getäuscht, denn so wenig als im
Sommer konnte er gewahren, daß dort das kleinste
Feuerchen entfacht wurde. Und doch war inzwischen die
Kälte stärker und anhaltend geworden; wenn die Baronin
ihre Geschäfte beendigt hatte, so mußte sie sich einsam
im kalten Gemache aufhalten, und Gott mochte wissen,
was sie dort that. Auch wurde sie ersichtlich immer
blasser, spitziger und matter, und es schien ihm, als ob
sie die Holzkörbe jeden Tag mühsamer herbeischleppe, so
daß es ihm, der ohnedies ein gefälliger und galanter
Mann war, in's Herz schnitt. Allein jeden Versuch, sie
zum Sprechen zu bringen und eine Hülfe einzuleiten,
lehnte sie beharrlich ab, wie wenn sie sich so recht vorsätz¬
lich aufreiben wollte. Er aber war ebenso hartnäckig und
wartete auf den Augenblick, der schließlich nicht aus¬
bleiben konnte.

Indessen wurde die Zeit doch etwas lang in Hinsicht
auf seine Verhältnisse. Sein verwittweter Vater war
ein großer Gutsbesitzer und sehr reicher Mann, welcher
wünschte, daß der einzige Sohn bei ihm lebte und die
Verwaltung der Güter übernahm. Auf der andern Seite
war der Sohn ein entschiedenes juristisches Talent und
ein gut empfohlener junger Mann, welcher von oben
dringend zum Staatsdienste aufgefordert und ermuntert
wurde. Er war auch nach der Hauptstadt gekommen, um
sich die Dinge näher anzusehen und sich für einstweilen
zu entschließen, wenn auch nicht für immer.

Keller, Sinngedicht. 12

ſo hatte er ſich darin getäuſcht, denn ſo wenig als im
Sommer konnte er gewahren, daß dort das kleinſte
Feuerchen entfacht wurde. Und doch war inzwiſchen die
Kälte ſtärker und anhaltend geworden; wenn die Baronin
ihre Geſchäfte beendigt hatte, ſo mußte ſie ſich einſam
im kalten Gemache aufhalten, und Gott mochte wiſſen,
was ſie dort that. Auch wurde ſie erſichtlich immer
blaſſer, ſpitziger und matter, und es ſchien ihm, als ob
ſie die Holzkörbe jeden Tag mühſamer herbeiſchleppe, ſo
daß es ihm, der ohnedies ein gefälliger und galanter
Mann war, in's Herz ſchnitt. Allein jeden Verſuch, ſie
zum Sprechen zu bringen und eine Hülfe einzuleiten,
lehnte ſie beharrlich ab, wie wenn ſie ſich ſo recht vorſätz¬
lich aufreiben wollte. Er aber war ebenſo hartnäckig und
wartete auf den Augenblick, der ſchließlich nicht aus¬
bleiben konnte.

Indeſſen wurde die Zeit doch etwas lang in Hinſicht
auf ſeine Verhältniſſe. Sein verwittweter Vater war
ein großer Gutsbeſitzer und ſehr reicher Mann, welcher
wünſchte, daß der einzige Sohn bei ihm lebte und die
Verwaltung der Güter übernahm. Auf der andern Seite
war der Sohn ein entſchiedenes juriſtiſches Talent und
ein gut empfohlener junger Mann, welcher von oben
dringend zum Staatsdienſte aufgefordert und ermuntert
wurde. Er war auch nach der Hauptſtadt gekommen, um
ſich die Dinge näher anzuſehen und ſich für einſtweilen
zu entſchließen, wenn auch nicht für immer.

Keller, Sinngedicht. 12
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[177/0187] ſo hatte er ſich darin getäuſcht, denn ſo wenig als im Sommer konnte er gewahren, daß dort das kleinſte Feuerchen entfacht wurde. Und doch war inzwiſchen die Kälte ſtärker und anhaltend geworden; wenn die Baronin ihre Geſchäfte beendigt hatte, ſo mußte ſie ſich einſam im kalten Gemache aufhalten, und Gott mochte wiſſen, was ſie dort that. Auch wurde ſie erſichtlich immer blaſſer, ſpitziger und matter, und es ſchien ihm, als ob ſie die Holzkörbe jeden Tag mühſamer herbeiſchleppe, ſo daß es ihm, der ohnedies ein gefälliger und galanter Mann war, in's Herz ſchnitt. Allein jeden Verſuch, ſie zum Sprechen zu bringen und eine Hülfe einzuleiten, lehnte ſie beharrlich ab, wie wenn ſie ſich ſo recht vorſätz¬ lich aufreiben wollte. Er aber war ebenſo hartnäckig und wartete auf den Augenblick, der ſchließlich nicht aus¬ bleiben konnte. Indeſſen wurde die Zeit doch etwas lang in Hinſicht auf ſeine Verhältniſſe. Sein verwittweter Vater war ein großer Gutsbeſitzer und ſehr reicher Mann, welcher wünſchte, daß der einzige Sohn bei ihm lebte und die Verwaltung der Güter übernahm. Auf der andern Seite war der Sohn ein entſchiedenes juriſtiſches Talent und ein gut empfohlener junger Mann, welcher von oben dringend zum Staatsdienſte aufgefordert und ermuntert wurde. Er war auch nach der Hauptſtadt gekommen, um ſich die Dinge näher anzuſehen und ſich für einſtweilen zu entſchließen, wenn auch nicht für immer. Keller, Sinngedicht. 12

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/187>, abgerufen am 24.11.2024.