Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Gestalt,
die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farben¬
harmonie des Saales störte. Aber wie überrascht stand
er eine Minute später unter der Thüre des Schlaf¬
zimmers, das er leise geöffnet, als er eine durchaus ver¬
wandte, jedoch von farbigem Leben pulsirende Erscheinung
sah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften
eine damascirte Seidendraperie von blaßgelber Farbe
geschlungen, die in breiten Massen und gebrochenen Falten
bis auf den Boden niederstarrte, stand Regine vor dem
Toilettespiegel und band mit einem schwermüthigen Ge¬
sichtsausdrucke das Haar auf, nachdem sie sich eben
gewaschen zu haben schien. Welch' ein Anblick! hat er
später noch immer gesagt. Freilich weniger griechisch, als
venezianisch, um in solchen Gemeinplätzen zu reden.

Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die
einfache Seele dazu, auf solche Weise die Schönheit zu
spiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat
sie das gelehrt? Woher hat sie das große Stück unver¬
arbeiteten Seidendamast? Ist sie mittlerweile so weit
in der Ausbildung gekommen, daß sie so üppige An¬
schaffungen macht, wie ein solcher Stoff ist, nur um ihn
des Morgens um die Lenden zu schlagen während eines
kleinen Luftbades? Und hat sie diese Künste für ihn
gelernt und aufgespart?

Diese Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel
durch sein Gehirn, nur halb kenntlich; sie zerstoben jedoch

9*

Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Geſtalt,
die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farben¬
harmonie des Saales ſtörte. Aber wie überraſcht ſtand
er eine Minute ſpäter unter der Thüre des Schlaf¬
zimmers, das er leiſe geöffnet, als er eine durchaus ver¬
wandte, jedoch von farbigem Leben pulſirende Erſcheinung
ſah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften
eine damascirte Seidendraperie von blaßgelber Farbe
geſchlungen, die in breiten Maſſen und gebrochenen Falten
bis auf den Boden niederſtarrte, ſtand Regine vor dem
Toiletteſpiegel und band mit einem ſchwermüthigen Ge¬
ſichtsausdrucke das Haar auf, nachdem ſie ſich eben
gewaſchen zu haben ſchien. Welch' ein Anblick! hat er
ſpäter noch immer geſagt. Freilich weniger griechiſch, als
venezianiſch, um in ſolchen Gemeinplätzen zu reden.

Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die
einfache Seele dazu, auf ſolche Weiſe die Schönheit zu
ſpiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat
ſie das gelehrt? Woher hat ſie das große Stück unver¬
arbeiteten Seidendamaſt? Iſt ſie mittlerweile ſo weit
in der Ausbildung gekommen, daß ſie ſo üppige An¬
ſchaffungen macht, wie ein ſolcher Stoff iſt, nur um ihn
des Morgens um die Lenden zu ſchlagen während eines
kleinen Luftbades? Und hat ſie dieſe Künſte für ihn
gelernt und aufgeſpart?

Dieſe Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel
durch ſein Gehirn, nur halb kenntlich; ſie zerſtoben jedoch

9*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0141" n="131"/>
          <p>Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Ge&#x017F;talt,<lb/>
die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farben¬<lb/>
harmonie des Saales &#x017F;törte. Aber wie überra&#x017F;cht &#x017F;tand<lb/>
er eine Minute &#x017F;päter unter der Thüre des Schlaf¬<lb/>
zimmers, das er lei&#x017F;e geöffnet, als er eine durchaus ver¬<lb/>
wandte, jedoch von farbigem Leben pul&#x017F;irende Er&#x017F;cheinung<lb/>
&#x017F;ah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften<lb/>
eine damascirte Seidendraperie von blaßgelber Farbe<lb/>
ge&#x017F;chlungen, die in breiten Ma&#x017F;&#x017F;en und gebrochenen Falten<lb/>
bis auf den Boden nieder&#x017F;tarrte, &#x017F;tand Regine vor dem<lb/>
Toilette&#x017F;piegel und band mit einem &#x017F;chwermüthigen Ge¬<lb/>
&#x017F;ichtsausdrucke das Haar auf, nachdem &#x017F;ie &#x017F;ich eben<lb/>
gewa&#x017F;chen zu haben &#x017F;chien. Welch' ein Anblick! hat er<lb/>
&#x017F;päter noch immer ge&#x017F;agt. Freilich weniger griechi&#x017F;ch, als<lb/>
veneziani&#x017F;ch, um in &#x017F;olchen Gemeinplätzen zu reden.</p><lb/>
          <p>Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die<lb/>
einfache Seele dazu, auf &#x017F;olche Wei&#x017F;e die Schönheit zu<lb/>
&#x017F;piegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat<lb/>
&#x017F;ie das gelehrt? Woher hat &#x017F;ie das große Stück unver¬<lb/>
arbeiteten Seidendama&#x017F;t? I&#x017F;t &#x017F;ie mittlerweile &#x017F;o weit<lb/>
in der Ausbildung gekommen, daß &#x017F;ie &#x017F;o üppige An¬<lb/>
&#x017F;chaffungen macht, wie ein &#x017F;olcher Stoff i&#x017F;t, nur um ihn<lb/>
des Morgens um die Lenden zu &#x017F;chlagen während eines<lb/>
kleinen Luftbades? Und hat &#x017F;ie die&#x017F;e Kün&#x017F;te für ihn<lb/>
gelernt und aufge&#x017F;part?</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel<lb/>
durch &#x017F;ein Gehirn, nur halb kenntlich; &#x017F;ie zer&#x017F;toben jedoch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">9*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0141] Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Geſtalt, die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farben¬ harmonie des Saales ſtörte. Aber wie überraſcht ſtand er eine Minute ſpäter unter der Thüre des Schlaf¬ zimmers, das er leiſe geöffnet, als er eine durchaus ver¬ wandte, jedoch von farbigem Leben pulſirende Erſcheinung ſah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften eine damascirte Seidendraperie von blaßgelber Farbe geſchlungen, die in breiten Maſſen und gebrochenen Falten bis auf den Boden niederſtarrte, ſtand Regine vor dem Toiletteſpiegel und band mit einem ſchwermüthigen Ge¬ ſichtsausdrucke das Haar auf, nachdem ſie ſich eben gewaſchen zu haben ſchien. Welch' ein Anblick! hat er ſpäter noch immer geſagt. Freilich weniger griechiſch, als venezianiſch, um in ſolchen Gemeinplätzen zu reden. Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die einfache Seele dazu, auf ſolche Weiſe die Schönheit zu ſpiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat ſie das gelehrt? Woher hat ſie das große Stück unver¬ arbeiteten Seidendamaſt? Iſt ſie mittlerweile ſo weit in der Ausbildung gekommen, daß ſie ſo üppige An¬ ſchaffungen macht, wie ein ſolcher Stoff iſt, nur um ihn des Morgens um die Lenden zu ſchlagen während eines kleinen Luftbades? Und hat ſie dieſe Künſte für ihn gelernt und aufgeſpart? Dieſe Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel durch ſein Gehirn, nur halb kenntlich; ſie zerſtoben jedoch 9*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/141
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/141>, abgerufen am 09.11.2024.