Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

der lange Brasilianer wieder ein, wie ein Dolchstich.
Sollte doch gestern ein rasches Einverständniß statt¬
gefunden haben, als Abschluß längeren Widerstandes und
fortgesetzter Verführungskünste? Und wenn der Ver¬
führer vielleicht wirklich in's Haus gedrungen ist, muß
er denn wirklich gesiegt haben? Aber seit wann trinken
feine Herren, wenn sie auf solche Abenteuer ausgehen, so
viel süßen Wein, und seit wann frißt ein vornehmer
Don Juan so viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn
er Hunger hat? Der erst recht!

Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Tisch wollte
ich den schwarzen Grafen in einem Gartencafe aufsuchen,
in welchem jüngere Leute seiner Gesellschaftsklasse sich eine
Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenigstens zu
beobachten, was er für ein Gesicht machte. Allein ich
kam von der Idee zurück, sie widerte mich an, und was
hatte ich mich darein zu mischen? Dafür traf ich ihn
von selbst auf einer Promenade mit andern Herren. Er
grüßte mich genau so ruhig, gesetzt und unbefangen, wie
er mich gestern verlassen.

Nach der Regine getraute ich mir vor der Hand nicht
mehr zu sehen. Das sind Dinge, die du am Ende nicht
zu behandeln verstehst, noch zu verstehen brauchst! sagte
ich mir. Einige Tage später ging ich in das Theater
und sah Reginen in der Loge der drei Parzen sitzen und
hinter ihr den Grafen. Die Parzen spiegelten sich offen¬
bar in dem Bewußtsein, aller Augen auf sich gerichtet zu

der lange Braſilianer wieder ein, wie ein Dolchſtich.
Sollte doch geſtern ein raſches Einverſtändniß ſtatt¬
gefunden haben, als Abſchluß längeren Widerſtandes und
fortgeſetzter Verführungskünſte? Und wenn der Ver¬
führer vielleicht wirklich in's Haus gedrungen iſt, muß
er denn wirklich geſiegt haben? Aber ſeit wann trinken
feine Herren, wenn ſie auf ſolche Abenteuer ausgehen, ſo
viel ſüßen Wein, und ſeit wann frißt ein vornehmer
Don Juan ſo viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn
er Hunger hat? Der erſt recht!

Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Tiſch wollte
ich den ſchwarzen Grafen in einem Gartencafé aufſuchen,
in welchem jüngere Leute ſeiner Geſellſchaftsklaſſe ſich eine
Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenigſtens zu
beobachten, was er für ein Geſicht machte. Allein ich
kam von der Idee zurück, ſie widerte mich an, und was
hatte ich mich darein zu miſchen? Dafür traf ich ihn
von ſelbſt auf einer Promenade mit andern Herren. Er
grüßte mich genau ſo ruhig, geſetzt und unbefangen, wie
er mich geſtern verlaſſen.

Nach der Regine getraute ich mir vor der Hand nicht
mehr zu ſehen. Das ſind Dinge, die du am Ende nicht
zu behandeln verſtehſt, noch zu verſtehen brauchſt! ſagte
ich mir. Einige Tage ſpäter ging ich in das Theater
und ſah Reginen in der Loge der drei Parzen ſitzen und
hinter ihr den Grafen. Die Parzen ſpiegelten ſich offen¬
bar in dem Bewußtſein, aller Augen auf ſich gerichtet zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0137" n="127"/>
der lange Bra&#x017F;ilianer wieder ein, wie ein Dolch&#x017F;tich.<lb/>
Sollte doch ge&#x017F;tern ein ra&#x017F;ches Einver&#x017F;tändniß &#x017F;tatt¬<lb/>
gefunden haben, als Ab&#x017F;chluß längeren Wider&#x017F;tandes und<lb/>
fortge&#x017F;etzter Verführungskün&#x017F;te? Und wenn der Ver¬<lb/>
führer vielleicht wirklich in's Haus gedrungen i&#x017F;t, muß<lb/>
er denn wirklich ge&#x017F;iegt haben? Aber &#x017F;eit wann trinken<lb/>
feine Herren, wenn &#x017F;ie auf &#x017F;olche Abenteuer ausgehen, &#x017F;o<lb/>
viel &#x017F;üßen Wein, und &#x017F;eit wann frißt ein vornehmer<lb/>
Don Juan &#x017F;o viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn<lb/>
er Hunger hat? Der er&#x017F;t recht!</p><lb/>
          <p>Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Ti&#x017F;ch wollte<lb/>
ich den &#x017F;chwarzen Grafen in einem Gartencafé auf&#x017F;uchen,<lb/>
in welchem jüngere Leute &#x017F;einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftskla&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich eine<lb/>
Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenig&#x017F;tens zu<lb/>
beobachten, was er für ein Ge&#x017F;icht machte. Allein ich<lb/>
kam von der Idee zurück, &#x017F;ie widerte mich an, und was<lb/>
hatte ich mich darein zu mi&#x017F;chen? Dafür traf ich ihn<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t auf einer Promenade mit andern Herren. Er<lb/>
grüßte mich genau &#x017F;o ruhig, ge&#x017F;etzt und unbefangen, wie<lb/>
er mich ge&#x017F;tern verla&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Nach der Regine getraute ich mir vor der Hand nicht<lb/>
mehr zu &#x017F;ehen. Das &#x017F;ind Dinge, die du am Ende nicht<lb/>
zu behandeln ver&#x017F;teh&#x017F;t, noch zu ver&#x017F;tehen brauch&#x017F;t! &#x017F;agte<lb/>
ich mir. Einige Tage &#x017F;päter ging ich in das Theater<lb/>
und &#x017F;ah Reginen in der Loge der drei Parzen &#x017F;itzen und<lb/>
hinter ihr den Grafen. Die Parzen &#x017F;piegelten &#x017F;ich offen¬<lb/>
bar in dem Bewußt&#x017F;ein, aller Augen auf &#x017F;ich gerichtet zu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0137] der lange Braſilianer wieder ein, wie ein Dolchſtich. Sollte doch geſtern ein raſches Einverſtändniß ſtatt¬ gefunden haben, als Abſchluß längeren Widerſtandes und fortgeſetzter Verführungskünſte? Und wenn der Ver¬ führer vielleicht wirklich in's Haus gedrungen iſt, muß er denn wirklich geſiegt haben? Aber ſeit wann trinken feine Herren, wenn ſie auf ſolche Abenteuer ausgehen, ſo viel ſüßen Wein, und ſeit wann frißt ein vornehmer Don Juan ſo viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn er Hunger hat? Der erſt recht! Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Tiſch wollte ich den ſchwarzen Grafen in einem Gartencafé aufſuchen, in welchem jüngere Leute ſeiner Geſellſchaftsklaſſe ſich eine Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenigſtens zu beobachten, was er für ein Geſicht machte. Allein ich kam von der Idee zurück, ſie widerte mich an, und was hatte ich mich darein zu miſchen? Dafür traf ich ihn von ſelbſt auf einer Promenade mit andern Herren. Er grüßte mich genau ſo ruhig, geſetzt und unbefangen, wie er mich geſtern verlaſſen. Nach der Regine getraute ich mir vor der Hand nicht mehr zu ſehen. Das ſind Dinge, die du am Ende nicht zu behandeln verſtehſt, noch zu verſtehen brauchſt! ſagte ich mir. Einige Tage ſpäter ging ich in das Theater und ſah Reginen in der Loge der drei Parzen ſitzen und hinter ihr den Grafen. Die Parzen ſpiegelten ſich offen¬ bar in dem Bewußtſein, aller Augen auf ſich gerichtet zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/137
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/137>, abgerufen am 24.11.2024.