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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Wange sanft streichelte, "es gehört auch zum Leben, sich
einer schweren Nothwendigkeit unterziehen zu lernen und
von der Hoffnung zu zehren! Solches wird uns noch
mehr widerfahren und so wollen wir guten Muthes den
Anfang machen!"

Im Geheimen freilich bestärkte ihn noch der Gedanke,
um jeden Preis die letzte Hand an sein Bildungswerk
legen zu können, ehe er die Gattin in das Vaterhaus
mitbringe; die menschliche Eitelkeit vermengt sich ja mit
den edelsten Ideen und verleiht ihnen oft eine Hartnäckig¬
keit, die uns sonst fehlen würde.

Erwin verreiste also ohne Verzug, um den nächsten
Dampfer nicht zu versäumen, und er reiste um so ge¬
faßter, als er Ursache zu haben glaubte, seine Frau in
gutem Umgange zurückzulassen, so wie auch das Haus mit
erfahrenen und ordentlichen Dienstboten versehen war.
Er langte wolbehalten in der Heimat an; allein die
Geschäfte wickelten sich nicht so rasch ab, wie er gehofft,
und es dauerte gegen drei Vierteljahre, bis er nach
Europa zurückkehren konnte. Während der Zeit genoß
Regine allerdings einer hinreichenden Gesellschaft. Da
waren voraus drei Damen, deren Umgang ihrem Manne
zweckmäßig für sie geschienen hatte, da sie im Rufe einer
großen und schönen Bildung standen; denn überall, wo
es etwas zu sehen und zu hören gab, waren sie in der
vordersten Reihe zu finden, und sie verehrten, beschützten
Alles und Jedes, das von sich reden machte. Erst später

Wange ſanft ſtreichelte, „es gehört auch zum Leben, ſich
einer ſchweren Nothwendigkeit unterziehen zu lernen und
von der Hoffnung zu zehren! Solches wird uns noch
mehr widerfahren und ſo wollen wir guten Muthes den
Anfang machen!“

Im Geheimen freilich beſtärkte ihn noch der Gedanke,
um jeden Preis die letzte Hand an ſein Bildungswerk
legen zu können, ehe er die Gattin in das Vaterhaus
mitbringe; die menſchliche Eitelkeit vermengt ſich ja mit
den edelſten Ideen und verleiht ihnen oft eine Hartnäckig¬
keit, die uns ſonſt fehlen würde.

Erwin verreiſte alſo ohne Verzug, um den nächſten
Dampfer nicht zu verſäumen, und er reiſte um ſo ge¬
faßter, als er Urſache zu haben glaubte, ſeine Frau in
gutem Umgange zurückzulaſſen, ſo wie auch das Haus mit
erfahrenen und ordentlichen Dienſtboten verſehen war.
Er langte wolbehalten in der Heimat an; allein die
Geſchäfte wickelten ſich nicht ſo raſch ab, wie er gehofft,
und es dauerte gegen drei Vierteljahre, bis er nach
Europa zurückkehren konnte. Während der Zeit genoß
Regine allerdings einer hinreichenden Geſellſchaft. Da
waren voraus drei Damen, deren Umgang ihrem Manne
zweckmäßig für ſie geſchienen hatte, da ſie im Rufe einer
großen und ſchönen Bildung ſtanden; denn überall, wo
es etwas zu ſehen und zu hören gab, waren ſie in der
vorderſten Reihe zu finden, und ſie verehrten, beſchützten
Alles und Jedes, das von ſich reden machte. Erſt ſpäter

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[103/0113] Wange ſanft ſtreichelte, „es gehört auch zum Leben, ſich einer ſchweren Nothwendigkeit unterziehen zu lernen und von der Hoffnung zu zehren! Solches wird uns noch mehr widerfahren und ſo wollen wir guten Muthes den Anfang machen!“ Im Geheimen freilich beſtärkte ihn noch der Gedanke, um jeden Preis die letzte Hand an ſein Bildungswerk legen zu können, ehe er die Gattin in das Vaterhaus mitbringe; die menſchliche Eitelkeit vermengt ſich ja mit den edelſten Ideen und verleiht ihnen oft eine Hartnäckig¬ keit, die uns ſonſt fehlen würde. Erwin verreiſte alſo ohne Verzug, um den nächſten Dampfer nicht zu verſäumen, und er reiſte um ſo ge¬ faßter, als er Urſache zu haben glaubte, ſeine Frau in gutem Umgange zurückzulaſſen, ſo wie auch das Haus mit erfahrenen und ordentlichen Dienſtboten verſehen war. Er langte wolbehalten in der Heimat an; allein die Geſchäfte wickelten ſich nicht ſo raſch ab, wie er gehofft, und es dauerte gegen drei Vierteljahre, bis er nach Europa zurückkehren konnte. Während der Zeit genoß Regine allerdings einer hinreichenden Geſellſchaft. Da waren voraus drei Damen, deren Umgang ihrem Manne zweckmäßig für ſie geſchienen hatte, da ſie im Rufe einer großen und ſchönen Bildung ſtanden; denn überall, wo es etwas zu ſehen und zu hören gab, waren ſie in der vorderſten Reihe zu finden, und ſie verehrten, beſchützten Alles und Jedes, das von ſich reden machte. Erſt ſpäter

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/113>, abgerufen am 27.11.2024.