Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

samen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬
haltlos wie unschuldige Kinder, edel, stark und
treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die
Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬
seren Fall! Denn nichts anderes als ein sol¬
ches festes, schöngebautes und gradausfahrendes
Frauenfahrzeug ist diese Lydia, die ihren Anker
nur einmal und dann in eine unergründliche
Tiefe auswirft und wohl weiß was sie will.
Diese Meinung ging gleich einer strahlenden
heißen Sonne in mir auf und in deren Licht
sah ich nun jede Bewegung und jede kleinste
Handlung, jedes Wort des schönen Geschöpfes,
und es dauerte nicht lange, so überbot sie in
meinen Augen alles, was der gute Dichter mit
seiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da
dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬
herging in Fleisch und Blut, mit wirklichen
Herzschlägen und einem thatsächlichen Nacken voll
goldener Locken."

"Das unheimliche Räthsel war nun gelöst
und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich
in diese mit dem Shakespeare in die Wette zu¬
sammengedichtete Seligkeit zu finden und mit

ſamen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬
haltlos wie unſchuldige Kinder, edel, ſtark und
treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die
Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬
ſeren Fall! Denn nichts anderes als ein ſol¬
ches feſtes, ſchöngebautes und gradausfahrendes
Frauenfahrzeug iſt dieſe Lydia, die ihren Anker
nur einmal und dann in eine unergründliche
Tiefe auswirft und wohl weiß was ſie will.
Dieſe Meinung ging gleich einer ſtrahlenden
heißen Sonne in mir auf und in deren Licht
ſah ich nun jede Bewegung und jede kleinſte
Handlung, jedes Wort des ſchönen Geſchöpfes,
und es dauerte nicht lange, ſo überbot ſie in
meinen Augen alles, was der gute Dichter mit
ſeiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da
dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬
herging in Fleiſch und Blut, mit wirklichen
Herzſchlägen und einem thatſächlichen Nacken voll
goldener Locken.«

»Das unheimliche Räthſel war nun gelöſt
und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich
in dieſe mit dem Shakeſpeare in die Wette zu¬
ſammengedichtete Seligkeit zu finden und mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0083" n="71"/>
&#x017F;amen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬<lb/>
haltlos wie un&#x017F;chuldige Kinder, edel, &#x017F;tark und<lb/>
treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die<lb/>
Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬<lb/>
&#x017F;eren Fall! Denn nichts anderes als ein &#x017F;ol¬<lb/>
ches fe&#x017F;tes, &#x017F;chöngebautes und gradausfahrendes<lb/>
Frauenfahrzeug i&#x017F;t die&#x017F;e Lydia, die ihren Anker<lb/>
nur <hi rendition="#g">einmal</hi> und dann in eine unergründliche<lb/>
Tiefe auswirft und wohl weiß was &#x017F;ie will.<lb/>
Die&#x017F;e Meinung ging gleich einer &#x017F;trahlenden<lb/>
heißen Sonne in mir auf und in deren Licht<lb/>
&#x017F;ah ich nun jede Bewegung und jede klein&#x017F;te<lb/>
Handlung, jedes Wort des &#x017F;chönen Ge&#x017F;chöpfes,<lb/>
und es dauerte nicht lange, &#x017F;o überbot &#x017F;ie in<lb/>
meinen Augen alles, was der gute Dichter mit<lb/>
&#x017F;einer mächtigen Einbildungskraft erfunden, da<lb/>
dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬<lb/>
herging in Flei&#x017F;ch und Blut, mit wirklichen<lb/>
Herz&#x017F;chlägen und einem that&#x017F;ächlichen Nacken voll<lb/>
goldener Locken.«</p><lb/>
        <p>»Das unheimliche Räth&#x017F;el war nun gelö&#x017F;t<lb/>
und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich<lb/>
in die&#x017F;e mit dem Shake&#x017F;peare in die Wette zu¬<lb/>
&#x017F;ammengedichtete Seligkeit zu finden und mit<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0083] ſamen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬ haltlos wie unſchuldige Kinder, edel, ſtark und treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬ ſeren Fall! Denn nichts anderes als ein ſol¬ ches feſtes, ſchöngebautes und gradausfahrendes Frauenfahrzeug iſt dieſe Lydia, die ihren Anker nur einmal und dann in eine unergründliche Tiefe auswirft und wohl weiß was ſie will. Dieſe Meinung ging gleich einer ſtrahlenden heißen Sonne in mir auf und in deren Licht ſah ich nun jede Bewegung und jede kleinſte Handlung, jedes Wort des ſchönen Geſchöpfes, und es dauerte nicht lange, ſo überbot ſie in meinen Augen alles, was der gute Dichter mit ſeiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬ herging in Fleiſch und Blut, mit wirklichen Herzſchlägen und einem thatſächlichen Nacken voll goldener Locken.« »Das unheimliche Räthſel war nun gelöſt und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich in dieſe mit dem Shakeſpeare in die Wette zu¬ ſammengedichtete Seligkeit zu finden und mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/83
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/83>, abgerufen am 24.11.2024.