ohne mein Wissen mir eingeprägt hatte, und fast jedes ihrer Worte, selbst das gleichgültigste und vorübergehendste, hörte ich mit klar vernehmlichem Ausdruck in der Stille dieser Wildniß wieder tönen. Diese sämmtliche Herrlichkeit hatte also gleichsam schlafend oder heimlicherweise sich in mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte nur den Riegel davor weggeschoben oder eine Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬ gaß über diesen Dingen wieder meinen schlechten Zorn und beschäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten Gedächtnisses und schenkte demselben nicht den kleinsten Zug, den es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern konnte. Auf diese Weise schlenderte ich denn auch wieder der Behausung zu und überließ mich allem diesen angenehmen Vorstellungen; jedoch vermochte ich nun nicht mehr so unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu sein, und da ich nichts anderes anzufangen wußte noch gesonnen war, so vermied ich möglichst jeden Verkehr mit ihr, um desto eifriger an sie zu denken. So ver¬ gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß sie
ohne mein Wiſſen mir eingeprägt hatte, und faſt jedes ihrer Worte, ſelbſt das gleichgültigſte und vorübergehendſte, hörte ich mit klar vernehmlichem Ausdruck in der Stille dieſer Wildniß wieder tönen. Dieſe ſämmtliche Herrlichkeit hatte alſo gleichſam ſchlafend oder heimlicherweiſe ſich in mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte nur den Riegel davor weggeſchoben oder eine Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬ gaß über dieſen Dingen wieder meinen ſchlechten Zorn und beſchäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten Gedächtniſſes und ſchenkte demſelben nicht den kleinſten Zug, den es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern konnte. Auf dieſe Weiſe ſchlenderte ich denn auch wieder der Behauſung zu und überließ mich allem dieſen angenehmen Vorſtellungen; jedoch vermochte ich nun nicht mehr ſo unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu ſein, und da ich nichts anderes anzufangen wußte noch geſonnen war, ſo vermied ich möglichſt jeden Verkehr mit ihr, um deſto eifriger an ſie zu denken. So ver¬ gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß ſie
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0075"n="63"/>
ohne mein Wiſſen mir eingeprägt hatte, und faſt<lb/>
jedes ihrer Worte, ſelbſt das gleichgültigſte und<lb/>
vorübergehendſte, hörte ich mit klar vernehmlichem<lb/>
Ausdruck in der Stille dieſer Wildniß wieder<lb/>
tönen. Dieſe ſämmtliche Herrlichkeit hatte alſo<lb/>
gleichſam ſchlafend oder heimlicherweiſe ſich in<lb/>
mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte<lb/>
nur den Riegel davor weggeſchoben oder eine<lb/>
Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬<lb/>
gaß über dieſen Dingen wieder meinen ſchlechten<lb/>
Zorn und beſchäftigte mich rückhaltlos mit der<lb/>
Ausbeutung meines guten Gedächtniſſes und<lb/>ſchenkte demſelben nicht den kleinſten Zug, den<lb/>
es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern<lb/>
konnte. Auf dieſe Weiſe ſchlenderte ich denn<lb/>
auch wieder der Behauſung zu und überließ mich<lb/>
allem dieſen angenehmen Vorſtellungen; jedoch<lb/>
vermochte ich nun nicht mehr ſo unbefangen und<lb/>
ruhig in ihrer Nähe zu ſein, und da ich nichts<lb/>
anderes anzufangen wußte noch geſonnen war,<lb/>ſo vermied ich möglichſt jeden Verkehr mit ihr,<lb/>
um deſto eifriger an ſie zu denken. So ver¬<lb/>
gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas<lb/>
Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß ſie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[63/0075]
ohne mein Wiſſen mir eingeprägt hatte, und faſt
jedes ihrer Worte, ſelbſt das gleichgültigſte und
vorübergehendſte, hörte ich mit klar vernehmlichem
Ausdruck in der Stille dieſer Wildniß wieder
tönen. Dieſe ſämmtliche Herrlichkeit hatte alſo
gleichſam ſchlafend oder heimlicherweiſe ſich in
mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte
nur den Riegel davor weggeſchoben oder eine
Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬
gaß über dieſen Dingen wieder meinen ſchlechten
Zorn und beſchäftigte mich rückhaltlos mit der
Ausbeutung meines guten Gedächtniſſes und
ſchenkte demſelben nicht den kleinſten Zug, den
es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern
konnte. Auf dieſe Weiſe ſchlenderte ich denn
auch wieder der Behauſung zu und überließ mich
allem dieſen angenehmen Vorſtellungen; jedoch
vermochte ich nun nicht mehr ſo unbefangen und
ruhig in ihrer Nähe zu ſein, und da ich nichts
anderes anzufangen wußte noch geſonnen war,
ſo vermied ich möglichſt jeden Verkehr mit ihr,
um deſto eifriger an ſie zu denken. So ver¬
gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas
Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/75>, abgerufen am 06.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.