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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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besetzen. Als sie eine gute halbe Stunde dahin
gezogen, machten sie Halt auf einer anmuthigen
Anhöhe, über welche ein Kreuzweg ging, und
setzten sich unter eine Linde in einen Halbkreis,
wo man eine weite Aussicht genoß und über
Wälder, Seen und Ortschaften wegsah. Züs
öffnete ihren Beutel und gab Jedem eine Hand¬
voll Birnen und Pflaumen, um sich zu erfrischen,
und sie saßen so eine geraume Weile schweigend
und ernst, nur mit den schnalzenden Zungen,
wenn sie die süßen Früchte damit zerdrückten,
ein sanftes Geräusch erregend.

Dann begann Züs indem sie einen Pflau¬
menkern fortwarf und die davon gefärbten Fin¬
gerspitzen am jungen Grase abwischte, zu sprechen:
"Lieben Freunde! Sehet, wie schön und weitläufig
die Welt ist, rings herum voll herrlicher Sachen
und voll Wohnungen der Menschen! Und dennoch
wollte ich wetten, daß in dieser feierlichen Stunde
nirgends in dieser weiten Welt vier so rechtfer¬
tige und gutartige Seelen bei einander versammelt
sitzen, wie wir hier sind, so sinnreich und be¬
dachtsam von Gemüth, so zugethan allen arbeit¬
samen Übungen und Tugenden, der Eingezogenheit,

Keller, die Leute von Seldwyla. 27

beſetzen. Als ſie eine gute halbe Stunde dahin
gezogen, machten ſie Halt auf einer anmuthigen
Anhöhe, über welche ein Kreuzweg ging, und
ſetzten ſich unter eine Linde in einen Halbkreis,
wo man eine weite Ausſicht genoß und über
Wälder, Seen und Ortſchaften wegſah. Züs
öffnete ihren Beutel und gab Jedem eine Hand¬
voll Birnen und Pflaumen, um ſich zu erfriſchen,
und ſie ſaßen ſo eine geraume Weile ſchweigend
und ernſt, nur mit den ſchnalzenden Zungen,
wenn ſie die ſüßen Früchte damit zerdrückten,
ein ſanftes Geräuſch erregend.

Dann begann Züs indem ſie einen Pflau¬
menkern fortwarf und die davon gefärbten Fin¬
gerſpitzen am jungen Graſe abwiſchte, zu ſprechen:
»Lieben Freunde! Sehet, wie ſchön und weitläufig
die Welt iſt, rings herum voll herrlicher Sachen
und voll Wohnungen der Menſchen! Und dennoch
wollte ich wetten, daß in dieſer feierlichen Stunde
nirgends in dieſer weiten Welt vier ſo rechtfer¬
tige und gutartige Seelen bei einander verſammelt
ſitzen, wie wir hier ſind, ſo ſinnreich und be¬
dachtſam von Gemüth, ſo zugethan allen arbeit¬
ſamen Übungen und Tugenden, der Eingezogenheit,

Keller, die Leute von Seldwyla. 27
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[417/0429] beſetzen. Als ſie eine gute halbe Stunde dahin gezogen, machten ſie Halt auf einer anmuthigen Anhöhe, über welche ein Kreuzweg ging, und ſetzten ſich unter eine Linde in einen Halbkreis, wo man eine weite Ausſicht genoß und über Wälder, Seen und Ortſchaften wegſah. Züs öffnete ihren Beutel und gab Jedem eine Hand¬ voll Birnen und Pflaumen, um ſich zu erfriſchen, und ſie ſaßen ſo eine geraume Weile ſchweigend und ernſt, nur mit den ſchnalzenden Zungen, wenn ſie die ſüßen Früchte damit zerdrückten, ein ſanftes Geräuſch erregend. Dann begann Züs indem ſie einen Pflau¬ menkern fortwarf und die davon gefärbten Fin¬ gerſpitzen am jungen Graſe abwiſchte, zu ſprechen: »Lieben Freunde! Sehet, wie ſchön und weitläufig die Welt iſt, rings herum voll herrlicher Sachen und voll Wohnungen der Menſchen! Und dennoch wollte ich wetten, daß in dieſer feierlichen Stunde nirgends in dieſer weiten Welt vier ſo rechtfer¬ tige und gutartige Seelen bei einander verſammelt ſitzen, wie wir hier ſind, ſo ſinnreich und be¬ dachtſam von Gemüth, ſo zugethan allen arbeit¬ ſamen Übungen und Tugenden, der Eingezogenheit, Keller, die Leute von Seldwyla. 27

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/429>, abgerufen am 13.05.2024.