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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im
Gedächtniß, aber wenn er sie beschreiben sollte,
so könnte er das nicht. Er sah fortwährend
dies Bild, als ob es vor ihm stände und fühlte
seinen angenehmen Einfluß, und doch sah er es
nur, wie etwas, das man eben nur ein Mal
gesehen, in dessen Gewalt man liegt und das
man doch noch nicht kennt. Er erinnerte sich
genau der Gesichtszüge, welche das kleine Dirn¬
chen einst gehabt mit großem Wohlgefallen, aber
nicht eigentlich derjenigen, welche er gestern ge¬
sehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu sehen
bekommen, so hätten sich seine Erinnerungskräfte
schon behelfen müssen und das liebe Gesicht säu¬
berlich wieder zusammengetragen, daß nicht ein
Zug daran fehlte. Jetzt aber versagten sie schlau
und hartnäckig ihren Dienst, weil die Augen
nach ihrem Recht und ihrer Lust verlangten, und
als am Nachmittage die Sonne warm und hell
die oberen Stockwerke der schwarzen Häuser be¬
schien, strich Sali aus dem Thore und seiner
alten Heimath zu, welche ihm jetzt erst ein
himmlisches Jerusalem zu sein schien mit zwölf

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er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im
Gedächtniß, aber wenn er ſie beſchreiben ſollte,
ſo könnte er das nicht. Er ſah fortwährend
dies Bild, als ob es vor ihm ſtände und fühlte
ſeinen angenehmen Einfluß, und doch ſah er es
nur, wie etwas, das man eben nur ein Mal
geſehen, in deſſen Gewalt man liegt und das
man doch noch nicht kennt. Er erinnerte ſich
genau der Geſichtszüge, welche das kleine Dirn¬
chen einſt gehabt mit großem Wohlgefallen, aber
nicht eigentlich derjenigen, welche er geſtern ge¬
ſehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu ſehen
bekommen, ſo hätten ſich ſeine Erinnerungskräfte
ſchon behelfen müſſen und das liebe Geſicht ſäu¬
berlich wieder zuſammengetragen, daß nicht ein
Zug daran fehlte. Jetzt aber verſagten ſie ſchlau
und hartnäckig ihren Dienſt, weil die Augen
nach ihrem Recht und ihrer Luſt verlangten, und
als am Nachmittage die Sonne warm und hell
die oberen Stockwerke der ſchwarzen Häuſer be¬
ſchien, ſtrich Sali aus dem Thore und ſeiner
alten Heimath zu, welche ihm jetzt erſt ein
himmliſches Jeruſalem zu ſein ſchien mit zwölf

17 *
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[265/0277] er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im Gedächtniß, aber wenn er ſie beſchreiben ſollte, ſo könnte er das nicht. Er ſah fortwährend dies Bild, als ob es vor ihm ſtände und fühlte ſeinen angenehmen Einfluß, und doch ſah er es nur, wie etwas, das man eben nur ein Mal geſehen, in deſſen Gewalt man liegt und das man doch noch nicht kennt. Er erinnerte ſich genau der Geſichtszüge, welche das kleine Dirn¬ chen einſt gehabt mit großem Wohlgefallen, aber nicht eigentlich derjenigen, welche er geſtern ge¬ ſehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu ſehen bekommen, ſo hätten ſich ſeine Erinnerungskräfte ſchon behelfen müſſen und das liebe Geſicht ſäu¬ berlich wieder zuſammengetragen, daß nicht ein Zug daran fehlte. Jetzt aber verſagten ſie ſchlau und hartnäckig ihren Dienſt, weil die Augen nach ihrem Recht und ihrer Luſt verlangten, und als am Nachmittage die Sonne warm und hell die oberen Stockwerke der ſchwarzen Häuſer be¬ ſchien, ſtrich Sali aus dem Thore und ſeiner alten Heimath zu, welche ihm jetzt erſt ein himmliſches Jeruſalem zu ſein ſchien mit zwölf 17 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/277>, abgerufen am 27.11.2024.