Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

seit wann wird denn der Staat stille stehn,
wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und
seit wann ist es denn nöthig, daß ich gerade
überall dabei bin?

"Dies ist keine Bescheidenheit, die dies sagt,
antwortete die Mutter, dies ist vielmehr ver¬
borgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß
ihr müßt dabei sein, wenn es irgend darauf
ankäme, und nur weil ihr den gewohnten stillen
Gang der Dinge verachtet, so haltet ihr euch
für zu gut, dabei zu sein!"

"Es ist aber in der That lächerlich, allein
dahin zu gehen, sagte Fritz, jedermann sieht Ei¬
nen hingehen, wo dann niemand als die Kir¬
chenmaus zu sehen ist."

Frau Amrain ließ aber nicht nach und er¬
wiederte: "Es genügt nicht, daß Du unterlassest,
was Du an den Seldwylern lächerlich findest!
Du mußt außerdem noch thun grade, was sie
für lächerlich halten; denn was diesen Eseln so
vorkommt, ist gewiß etwas Gutes und Vernünf¬
tiges! Man kennt die Vögel an den Federn,
so die Seldwyler an dem, was sie für lächerlich
halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei

ſeit wann wird denn der Staat ſtille ſtehn,
wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und
ſeit wann iſt es denn nöthig, daß ich gerade
überall dabei bin?

»Dies iſt keine Beſcheidenheit, die dies ſagt,
antwortete die Mutter, dies iſt vielmehr ver¬
borgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß
ihr müßt dabei ſein, wenn es irgend darauf
ankäme, und nur weil ihr den gewohnten ſtillen
Gang der Dinge verachtet, ſo haltet ihr euch
für zu gut, dabei zu ſein!«

»Es iſt aber in der That lächerlich, allein
dahin zu gehen, ſagte Fritz, jedermann ſieht Ei¬
nen hingehen, wo dann niemand als die Kir¬
chenmaus zu ſehen iſt.«

Frau Amrain ließ aber nicht nach und er¬
wiederte: »Es genügt nicht, daß Du unterlaſſeſt,
was Du an den Seldwylern lächerlich findeſt!
Du mußt außerdem noch thun grade, was ſie
für lächerlich halten; denn was dieſen Eſeln ſo
vorkommt, iſt gewiß etwas Gutes und Vernünf¬
tiges! Man kennt die Vögel an den Federn,
ſo die Seldwyler an dem, was ſie für lächerlich
halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0201" n="189"/>
&#x017F;eit wann wird denn der Staat &#x017F;tille &#x017F;tehn,<lb/>
wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und<lb/>
&#x017F;eit wann i&#x017F;t es denn nöthig, daß ich gerade<lb/>
überall dabei bin?</p><lb/>
        <p>»Dies i&#x017F;t keine Be&#x017F;cheidenheit, die dies &#x017F;agt,<lb/>
antwortete die Mutter, dies i&#x017F;t vielmehr ver¬<lb/>
borgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß<lb/>
ihr müßt dabei &#x017F;ein, wenn es irgend darauf<lb/>
ankäme, und nur weil ihr den gewohnten &#x017F;tillen<lb/>
Gang der Dinge verachtet, &#x017F;o haltet ihr euch<lb/>
für zu gut, dabei zu &#x017F;ein!«</p><lb/>
        <p>»Es i&#x017F;t aber in der That lächerlich, allein<lb/>
dahin zu gehen, &#x017F;agte Fritz, jedermann &#x017F;ieht Ei¬<lb/>
nen hingehen, wo dann niemand als die Kir¬<lb/>
chenmaus zu &#x017F;ehen i&#x017F;t.«</p><lb/>
        <p>Frau Amrain ließ aber nicht nach und er¬<lb/>
wiederte: »Es genügt nicht, daß Du unterla&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t,<lb/>
was Du an den Seldwylern lächerlich finde&#x017F;t!<lb/>
Du mußt außerdem noch thun grade, was &#x017F;ie<lb/>
für lächerlich halten; denn was die&#x017F;en E&#x017F;eln &#x017F;o<lb/>
vorkommt, i&#x017F;t gewiß etwas Gutes und Vernünf¬<lb/>
tiges! Man kennt die Vögel an den Federn,<lb/>
&#x017F;o die Seldwyler an dem, was &#x017F;ie für lächerlich<lb/>
halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0201] ſeit wann wird denn der Staat ſtille ſtehn, wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und ſeit wann iſt es denn nöthig, daß ich gerade überall dabei bin? »Dies iſt keine Beſcheidenheit, die dies ſagt, antwortete die Mutter, dies iſt vielmehr ver¬ borgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß ihr müßt dabei ſein, wenn es irgend darauf ankäme, und nur weil ihr den gewohnten ſtillen Gang der Dinge verachtet, ſo haltet ihr euch für zu gut, dabei zu ſein!« »Es iſt aber in der That lächerlich, allein dahin zu gehen, ſagte Fritz, jedermann ſieht Ei¬ nen hingehen, wo dann niemand als die Kir¬ chenmaus zu ſehen iſt.« Frau Amrain ließ aber nicht nach und er¬ wiederte: »Es genügt nicht, daß Du unterlaſſeſt, was Du an den Seldwylern lächerlich findeſt! Du mußt außerdem noch thun grade, was ſie für lächerlich halten; denn was dieſen Eſeln ſo vorkommt, iſt gewiß etwas Gutes und Vernünf¬ tiges! Man kennt die Vögel an den Federn, ſo die Seldwyler an dem, was ſie für lächerlich halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/201
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/201>, abgerufen am 25.11.2024.