zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen Wege der Fähigkeiten, wie sie im Menschenkind sich verlieren? als er den Werkführer recht wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die unbewußte blitzschnelle Heuchelei des Zartgefühles, mit der er sich stellte, als ob er einen Dieb sähe und die ihn so unbefangen den Widersacher vor den Kopf schlagen ließ?
Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn so, daß er ein braver Mann wurde in Seld¬ wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht blieben, so lange sie lebten. Wie sie dies eigent¬ lich anfing und bewirkte, wäre schwer zu sagen; denn sie erzog eigentlich so wenig als möglich und das Werk bestand fast lediglich darin, daß das junge Bäumchen, so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre Kinder ordentlich zu ziehen, so wie es einem Tölpel, der selbst nicht lesen kann, schwer fallen wird, ein Kind lesen zu lehren. Im Ganzen bestand das Geheimniß ihrer Erziehungskunst darin, daß sie das Söhnchen ohne Empfindsam¬
zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen Wege der Fähigkeiten, wie ſie im Menſchenkind ſich verlieren? als er den Werkführer recht wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die unbewußte blitzſchnelle Heuchelei des Zartgefühles, mit der er ſich ſtellte, als ob er einen Dieb ſähe und die ihn ſo unbefangen den Widerſacher vor den Kopf ſchlagen ließ?
Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn ſo, daß er ein braver Mann wurde in Seld¬ wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht blieben, ſo lange ſie lebten. Wie ſie dies eigent¬ lich anfing und bewirkte, wäre ſchwer zu ſagen; denn ſie erzog eigentlich ſo wenig als möglich und das Werk beſtand faſt lediglich darin, daß das junge Bäumchen, ſo vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und ſich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre Kinder ordentlich zu ziehen, ſo wie es einem Tölpel, der ſelbſt nicht leſen kann, ſchwer fallen wird, ein Kind leſen zu lehren. Im Ganzen beſtand das Geheimniß ihrer Erziehungskunſt darin, daß ſie das Söhnchen ohne Empfindſam¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0140"n="128"/>
zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen<lb/>
Wege der Fähigkeiten, wie ſie im Menſchenkind<lb/>ſich verlieren? als er den Werkführer recht<lb/>
wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die<lb/>
unbewußte blitzſchnelle Heuchelei des Zartgefühles,<lb/>
mit der er ſich ſtellte, als ob er einen Dieb<lb/>ſähe und die ihn ſo unbefangen den Widerſacher<lb/>
vor den Kopf ſchlagen ließ?</p><lb/><p>Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog<lb/>
ihn ſo, daß er ein braver Mann wurde in Seld¬<lb/>
wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht<lb/>
blieben, ſo lange ſie lebten. Wie ſie dies eigent¬<lb/>
lich anfing und bewirkte, wäre ſchwer zu ſagen;<lb/>
denn ſie erzog eigentlich ſo wenig als möglich<lb/>
und das Werk beſtand faſt lediglich darin, daß<lb/>
das junge Bäumchen, ſo vom gleichen Holze<lb/>
mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und<lb/>ſich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete<lb/>
Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre<lb/>
Kinder ordentlich zu ziehen, ſo wie es einem<lb/>
Tölpel, der ſelbſt nicht leſen kann, ſchwer fallen<lb/>
wird, ein Kind leſen zu lehren. Im Ganzen<lb/>
beſtand das Geheimniß ihrer Erziehungskunſt<lb/>
darin, daß ſie das Söhnchen ohne Empfindſam¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[128/0140]
zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen
Wege der Fähigkeiten, wie ſie im Menſchenkind
ſich verlieren? als er den Werkführer recht
wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die
unbewußte blitzſchnelle Heuchelei des Zartgefühles,
mit der er ſich ſtellte, als ob er einen Dieb
ſähe und die ihn ſo unbefangen den Widerſacher
vor den Kopf ſchlagen ließ?
Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog
ihn ſo, daß er ein braver Mann wurde in Seld¬
wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht
blieben, ſo lange ſie lebten. Wie ſie dies eigent¬
lich anfing und bewirkte, wäre ſchwer zu ſagen;
denn ſie erzog eigentlich ſo wenig als möglich
und das Werk beſtand faſt lediglich darin, daß
das junge Bäumchen, ſo vom gleichen Holze
mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und
ſich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete
Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre
Kinder ordentlich zu ziehen, ſo wie es einem
Tölpel, der ſelbſt nicht leſen kann, ſchwer fallen
wird, ein Kind leſen zu lehren. Im Ganzen
beſtand das Geheimniß ihrer Erziehungskunſt
darin, daß ſie das Söhnchen ohne Empfindſam¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/140>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.