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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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werden, nach Hause gehen und mir und andern
das Leben so angenehm als möglich machen.
Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte
vor krampfhafter Anstrengung, mich auf selbem
Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leise an
allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬
neten Lippen bewegte, so richtete sich der Löwe
halb auf, wackelte mit seinem Hintergestell, fun¬
kelte mit den Augen und brüllte, so daß ich den
Mund schnell wieder schloß und die Zähne auf
einander biß. Indem ich aber so eine lange
Minute um die andere abwickeln und erleben
mußte, verschwand der Zorn und die Bitterkeit
in mir, selbst gegen den Löwen, und je schwächer
ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich
alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde
aber, als endlich der Nachmittag schon vorgerückt
war, doch nicht mehr lange gegangen sein, als
eine unverhoffte Rettung sich aufthat. Das Thier
und ich waren so in einander vernarrt, daß kei¬
ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im
Rücken des Löwen hermarschirt kamen, bis sie
auf höchstens dreißig Schritte nahe waren. Es

werden, nach Hauſe gehen und mir und andern
das Leben ſo angenehm als möglich machen.
Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte
vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem
Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an
allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬
neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe
halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬
kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den
Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf
einander biß. Indem ich aber ſo eine lange
Minute um die andere abwickeln und erleben
mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit
in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer
ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich
alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde
aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt
war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als
eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier
und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬
ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im
Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie
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[108/0120] werden, nach Hauſe gehen und mir und andern das Leben ſo angenehm als möglich machen. Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬ neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬ kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf einander biß. Indem ich aber ſo eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬ ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie auf höchſtens dreißig Schritte nahe waren. Es

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/120>, abgerufen am 04.12.2024.