werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen. Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anstrengung, mich auf selbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leise an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬ neten Lippen bewegte, so richtete sich der Löwe halb auf, wackelte mit seinem Hintergestell, fun¬ kelte mit den Augen und brüllte, so daß ich den Mund schnell wieder schloß und die Zähne auf einander biß. Indem ich aber so eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte, verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen den Löwen, und je schwächer ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Nachmittag schon vorgerückt war, doch nicht mehr lange gegangen sein, als eine unverhoffte Rettung sich aufthat. Das Thier und ich waren so in einander vernarrt, daß kei¬ ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im Rücken des Löwen hermarschirt kamen, bis sie auf höchstens dreißig Schritte nahe waren. Es
werden, nach Hauſe gehen und mir und andern das Leben ſo angenehm als möglich machen. Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬ neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬ kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf einander biß. Indem ich aber ſo eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬ ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie auf höchſtens dreißig Schritte nahe waren. Es
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0120"n="108"/>
werden, nach Hauſe gehen und mir und andern<lb/>
das Leben ſo angenehm als möglich machen.<lb/>
Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte<lb/>
vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem<lb/>
Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an<lb/>
allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬<lb/>
neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe<lb/>
halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬<lb/>
kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den<lb/>
Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf<lb/>
einander biß. Indem ich aber ſo eine lange<lb/>
Minute um die andere abwickeln und erleben<lb/>
mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit<lb/>
in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer<lb/>
ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich<lb/>
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich<lb/>
alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde<lb/>
aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt<lb/>
war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als<lb/>
eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier<lb/>
und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬<lb/>
ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im<lb/>
Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie<lb/>
auf höchſtens dreißig Schritte nahe waren. Es<lb/></p></div></body></text></TEI>
[108/0120]
werden, nach Hauſe gehen und mir und andern
das Leben ſo angenehm als möglich machen.
Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte
vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem
Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an
allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬
neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe
halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬
kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den
Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf
einander biß. Indem ich aber ſo eine lange
Minute um die andere abwickeln und erleben
mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit
in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer
ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich
alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde
aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt
war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als
eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier
und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬
ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im
Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie
auf höchſtens dreißig Schritte nahe waren. Es
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/120>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.