Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Zu Anfang des achten Jahrhunderts lebte zu
Alexandria in Egypten ein wunderlicher Mönch,
Namens Vitalis, der es sich zur besondern Aufgabe
gemacht hatte, verlorene weibliche Seelen vom Pfade
der Sünde hinwegzulocken und zur Tugend zurück¬
zuführen. Aber der Weg, den er dabei einschlug,
war so eigenthümlich, und die Liebhaberei, ja Leiden¬
schaft, mit welcher er unablässig sein Ziel verfolgte,
war mit so seltsamer Selbstentäußerung und Heuchelei
vermischt, wie in der Welt kaum wieder vorkam.

Er führte ein genaues Verzeichniß aller jener
Buhlerinnen auf einem zierlichen Pergamentstreifen,
und sobald er in der Stadt oder deren Umgebung
ein neues Wild entdeckt, merkte er Namen und Woh¬
nung unverweilt auf demselben vor, so daß die
schlimmen Patriziersöhne von Alexandria keinen besseren
Wegweiser hätten finden können, als den emsigen
Vitalis, wenn er einen minder heiligen Zweck hätte
verfolgen wollen. Allein wohl entlockte der Mönch

Zu Anfang des achten Jahrhunderts lebte zu
Alexandria in Egypten ein wunderlicher Mönch,
Namens Vitalis, der es ſich zur beſondern Aufgabe
gemacht hatte, verlorene weibliche Seelen vom Pfade
der Sünde hinwegzulocken und zur Tugend zurück¬
zuführen. Aber der Weg, den er dabei einſchlug,
war ſo eigenthümlich, und die Liebhaberei, ja Leiden¬
ſchaft, mit welcher er unabläſſig ſein Ziel verfolgte,
war mit ſo ſeltſamer Selbſtentäußerung und Heuchelei
vermiſcht, wie in der Welt kaum wieder vorkam.

Er führte ein genaues Verzeichniß aller jener
Buhlerinnen auf einem zierlichen Pergamentſtreifen,
und ſobald er in der Stadt oder deren Umgebung
ein neues Wild entdeckt, merkte er Namen und Woh¬
nung unverweilt auf demſelben vor, ſo daß die
ſchlimmen Patrizierſöhne von Alexandria keinen beſſeren
Wegweiſer hätten finden können, als den emſigen
Vitalis, wenn er einen minder heiligen Zweck hätte
verfolgen wollen. Allein wohl entlockte der Mönch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0099"/>
        <p><hi rendition="#in">Z</hi>u Anfang des achten Jahrhunderts lebte zu<lb/>
Alexandria in Egypten ein wunderlicher Mönch,<lb/>
Namens Vitalis, der es &#x017F;ich zur be&#x017F;ondern Aufgabe<lb/>
gemacht hatte, verlorene weibliche Seelen vom Pfade<lb/>
der Sünde hinwegzulocken und zur Tugend zurück¬<lb/>
zuführen. Aber der Weg, den er dabei ein&#x017F;chlug,<lb/>
war &#x017F;o eigenthümlich, und die Liebhaberei, ja Leiden¬<lb/>
&#x017F;chaft, mit welcher er unablä&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;ein Ziel verfolgte,<lb/>
war mit &#x017F;o &#x017F;elt&#x017F;amer Selb&#x017F;tentäußerung und Heuchelei<lb/>
vermi&#x017F;cht, wie in der Welt kaum wieder vorkam.</p><lb/>
        <p>Er führte ein genaues Verzeichniß aller jener<lb/>
Buhlerinnen auf einem zierlichen Pergament&#x017F;treifen,<lb/>
und &#x017F;obald er in der Stadt oder deren Umgebung<lb/>
ein neues Wild entdeckt, merkte er Namen und Woh¬<lb/>
nung unverweilt auf dem&#x017F;elben vor, &#x017F;o daß die<lb/>
&#x017F;chlimmen Patrizier&#x017F;öhne von Alexandria keinen be&#x017F;&#x017F;eren<lb/>
Wegwei&#x017F;er hätten finden können, als den em&#x017F;igen<lb/>
Vitalis, wenn er einen minder heiligen Zweck hätte<lb/>
verfolgen wollen. Allein wohl entlockte der Mönch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] Zu Anfang des achten Jahrhunderts lebte zu Alexandria in Egypten ein wunderlicher Mönch, Namens Vitalis, der es ſich zur beſondern Aufgabe gemacht hatte, verlorene weibliche Seelen vom Pfade der Sünde hinwegzulocken und zur Tugend zurück¬ zuführen. Aber der Weg, den er dabei einſchlug, war ſo eigenthümlich, und die Liebhaberei, ja Leiden¬ ſchaft, mit welcher er unabläſſig ſein Ziel verfolgte, war mit ſo ſeltſamer Selbſtentäußerung und Heuchelei vermiſcht, wie in der Welt kaum wieder vorkam. Er führte ein genaues Verzeichniß aller jener Buhlerinnen auf einem zierlichen Pergamentſtreifen, und ſobald er in der Stadt oder deren Umgebung ein neues Wild entdeckt, merkte er Namen und Woh¬ nung unverweilt auf demſelben vor, ſo daß die ſchlimmen Patrizierſöhne von Alexandria keinen beſſeren Wegweiſer hätten finden können, als den emſigen Vitalis, wenn er einen minder heiligen Zweck hätte verfolgen wollen. Allein wohl entlockte der Mönch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/99
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/99>, abgerufen am 23.04.2024.