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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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rothglühende Nonne vor sich, trabte er lustig durch
Wälder und Auen.

Zwei- oder dreihundert Pferdelängen weit hielt
sie sich aufrecht und schaute unverwandt in die Weite,
während sie ihre Hand gegen seine Brust stemmte.
Bald aber lag ihr Gesicht an dieser Brust aufwärts
gewendet und litt die Küsse, welche der reisige Herr
darauf drückte; und abermals nach dreihundert
Schritten erwiederte sie dieselben schon so eifrig, als
ob sie niemals eine Klosterglocke geläutet hätte. Unter
solchen Umständen sahen sie nichts vom Lande und
vom Lichte, das sie durchzogen, und die Nonne, die sich
erst nach der weiten Welt gesehnt, schloß jetzt ihre
Augen vor derselben und beschränkte sich auf einen
Bezirk, den ein Pferd auf seinem Rücken forttragen
konnte.

Auch Wonnebold, der Ritter, dachte kaum an sei¬
ner Väter Burg, bis die Thürme derselben im Mond¬
lichte vor ihm glänzten. Aber still war es um die
Burg und noch stiller in derselben und nirgends ein
Licht zu erblicken. Vater und Mutter Wonnebolds
waren gestorben und alles Gesinde weggezogen bis
auf ein steinaltes Schloßvögtchen, welches nach langem
Klopfen mit einer Laterne erschien und vor Freuden
beinahe starb, als es den Ritter vor dem müh¬
sam geöffneten Thore erblickte. Doch hatte der Alte

rothglühende Nonne vor ſich, trabte er luſtig durch
Wälder und Auen.

Zwei- oder dreihundert Pferdelängen weit hielt
ſie ſich aufrecht und ſchaute unverwandt in die Weite,
während ſie ihre Hand gegen ſeine Bruſt ſtemmte.
Bald aber lag ihr Geſicht an dieſer Bruſt aufwärts
gewendet und litt die Küſſe, welche der reiſige Herr
darauf drückte; und abermals nach dreihundert
Schritten erwiederte ſie dieſelben ſchon ſo eifrig, als
ob ſie niemals eine Kloſterglocke geläutet hätte. Unter
ſolchen Umſtänden ſahen ſie nichts vom Lande und
vom Lichte, das ſie durchzogen, und die Nonne, die ſich
erſt nach der weiten Welt geſehnt, ſchloß jetzt ihre
Augen vor derſelben und beſchränkte ſich auf einen
Bezirk, den ein Pferd auf ſeinem Rücken forttragen
konnte.

Auch Wonnebold, der Ritter, dachte kaum an ſei¬
ner Väter Burg, bis die Thürme derſelben im Mond¬
lichte vor ihm glänzten. Aber ſtill war es um die
Burg und noch ſtiller in derſelben und nirgends ein
Licht zu erblicken. Vater und Mutter Wonnebolds
waren geſtorben und alles Geſinde weggezogen bis
auf ein ſteinaltes Schloßvögtchen, welches nach langem
Klopfen mit einer Laterne erſchien und vor Freuden
beinahe ſtarb, als es den Ritter vor dem müh¬
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[72/0086] rothglühende Nonne vor ſich, trabte er luſtig durch Wälder und Auen. Zwei- oder dreihundert Pferdelängen weit hielt ſie ſich aufrecht und ſchaute unverwandt in die Weite, während ſie ihre Hand gegen ſeine Bruſt ſtemmte. Bald aber lag ihr Geſicht an dieſer Bruſt aufwärts gewendet und litt die Küſſe, welche der reiſige Herr darauf drückte; und abermals nach dreihundert Schritten erwiederte ſie dieſelben ſchon ſo eifrig, als ob ſie niemals eine Kloſterglocke geläutet hätte. Unter ſolchen Umſtänden ſahen ſie nichts vom Lande und vom Lichte, das ſie durchzogen, und die Nonne, die ſich erſt nach der weiten Welt geſehnt, ſchloß jetzt ihre Augen vor derſelben und beſchränkte ſich auf einen Bezirk, den ein Pferd auf ſeinem Rücken forttragen konnte. Auch Wonnebold, der Ritter, dachte kaum an ſei¬ ner Väter Burg, bis die Thürme derſelben im Mond¬ lichte vor ihm glänzten. Aber ſtill war es um die Burg und noch ſtiller in derſelben und nirgends ein Licht zu erblicken. Vater und Mutter Wonnebolds waren geſtorben und alles Geſinde weggezogen bis auf ein ſteinaltes Schloßvögtchen, welches nach langem Klopfen mit einer Laterne erſchien und vor Freuden beinahe ſtarb, als es den Ritter vor dem müh¬ ſam geöffneten Thore erblickte. Doch hatte der Alte

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/86>, abgerufen am 29.03.2024.