Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

vor den Altar, zum Wandern gerüstet: "Ich habe
dir nun manches Jahr treu gedient," sagte sie zur
Jungfrau Maria, "aber jetzt nimm du die Schlüssel
zu dir, denn ich vermag die Gluth in meinem Her¬
zen nicht länger zu ertragen!" Hierauf legte sie ihren
Schlüsselbund auf den Altar und ging aus dem Kloster
hinaus. Sie stieg hernieder durch die Einsamkeit des
Berges und wanderte, bis sie in einem Eichenwalde
auf einen Kreuzweg gelangte, wo sie unschlüssig, nach
welcher Seite sie sich wenden sollte, sich an einem
Quell niedersetzte, der da für die Vorüberziehenden
in Stein gefaßt und mit einer Bank versehen war.
Dort saß sie, bis die Sonne aufging und wurde feucht
vom fallenden Thau.

Da ging die Sonne auf hinter dem Walde und
ihre ersten Strahlen, welche durch die Waldstraße
schossen, trafen einen prächtigen Ritter, der völlig
allein in seinen Waffen daher geritten kam. Die Nonne
schaute aus ihren schönen Augen, so stark sie konnte,
und verlor keinen Zoll von der mannhaften Erschei¬
nung ; aber sie hielt sich so still, daß der Ritter sie
nicht gesehen, wenn nicht das Geräusch des Brunnens
sein Ohr berührt und seine Augen hin gelenkt
hätte. Sogleich bog er seitwärts nach dem Quell,
stieg vom Pferde und ließ es trinken, während er die
Nonne ehrerbietig begrüßte. Er war ein Kreuz¬

vor den Altar, zum Wandern gerüſtet: „Ich habe
dir nun manches Jahr treu gedient,“ ſagte ſie zur
Jungfrau Maria, „aber jetzt nimm du die Schlüſſel
zu dir, denn ich vermag die Gluth in meinem Her¬
zen nicht länger zu ertragen!“ Hierauf legte ſie ihren
Schlüſſelbund auf den Altar und ging aus dem Kloſter
hinaus. Sie ſtieg hernieder durch die Einſamkeit des
Berges und wanderte, bis ſie in einem Eichenwalde
auf einen Kreuzweg gelangte, wo ſie unſchlüſſig, nach
welcher Seite ſie ſich wenden ſollte, ſich an einem
Quell niederſetzte, der da für die Vorüberziehenden
in Stein gefaßt und mit einer Bank verſehen war.
Dort ſaß ſie, bis die Sonne aufging und wurde feucht
vom fallenden Thau.

Da ging die Sonne auf hinter dem Walde und
ihre erſten Strahlen, welche durch die Waldſtraße
ſchoſſen, trafen einen prächtigen Ritter, der völlig
allein in ſeinen Waffen daher geritten kam. Die Nonne
ſchaute aus ihren ſchönen Augen, ſo ſtark ſie konnte,
und verlor keinen Zoll von der mannhaften Erſchei¬
nung ; aber ſie hielt ſich ſo ſtill, daß der Ritter ſie
nicht geſehen, wenn nicht das Geräuſch des Brunnens
ſein Ohr berührt und ſeine Augen hin gelenkt
hätte. Sogleich bog er ſeitwärts nach dem Quell,
ſtieg vom Pferde und ließ es trinken, während er die
Nonne ehrerbietig begrüßte. Er war ein Kreuz¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0084" n="70"/>
vor den Altar, zum Wandern gerü&#x017F;tet: &#x201E;Ich habe<lb/>
dir nun manches Jahr treu gedient,&#x201C; &#x017F;agte &#x017F;ie zur<lb/>
Jungfrau Maria, &#x201E;aber jetzt nimm du die Schlü&#x017F;&#x017F;el<lb/>
zu dir, denn ich vermag die Gluth in meinem Her¬<lb/>
zen nicht länger zu ertragen!&#x201C; Hierauf legte &#x017F;ie ihren<lb/>
Schlü&#x017F;&#x017F;elbund auf den Altar und ging aus dem Klo&#x017F;ter<lb/>
hinaus. Sie &#x017F;tieg hernieder durch die Ein&#x017F;amkeit des<lb/>
Berges und wanderte, bis &#x017F;ie in einem Eichenwalde<lb/>
auf einen Kreuzweg gelangte, wo &#x017F;ie un&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;ig, nach<lb/>
welcher Seite &#x017F;ie &#x017F;ich wenden &#x017F;ollte, &#x017F;ich an einem<lb/>
Quell nieder&#x017F;etzte, der da für die Vorüberziehenden<lb/>
in Stein gefaßt und mit einer Bank ver&#x017F;ehen war.<lb/>
Dort &#x017F;&#x017F;ie, bis die Sonne aufging und wurde feucht<lb/>
vom fallenden Thau.</p><lb/>
        <p>Da ging die Sonne auf hinter dem Walde und<lb/>
ihre er&#x017F;ten Strahlen, welche durch die Wald&#x017F;traße<lb/>
&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en, trafen einen prächtigen Ritter, der völlig<lb/>
allein in &#x017F;einen Waffen daher geritten kam. Die Nonne<lb/>
&#x017F;chaute aus ihren &#x017F;chönen Augen, &#x017F;o &#x017F;tark &#x017F;ie konnte,<lb/>
und verlor keinen Zoll von der mannhaften Er&#x017F;chei¬<lb/>
nung ; aber &#x017F;ie hielt &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;till, daß der Ritter &#x017F;ie<lb/>
nicht ge&#x017F;ehen, wenn nicht das Geräu&#x017F;ch des Brunnens<lb/>
&#x017F;ein Ohr berührt und &#x017F;eine Augen hin gelenkt<lb/>
hätte. Sogleich bog er &#x017F;eitwärts nach dem Quell,<lb/>
&#x017F;tieg vom Pferde und ließ es trinken, während er die<lb/>
Nonne ehrerbietig begrüßte. Er war ein Kreuz¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0084] vor den Altar, zum Wandern gerüſtet: „Ich habe dir nun manches Jahr treu gedient,“ ſagte ſie zur Jungfrau Maria, „aber jetzt nimm du die Schlüſſel zu dir, denn ich vermag die Gluth in meinem Her¬ zen nicht länger zu ertragen!“ Hierauf legte ſie ihren Schlüſſelbund auf den Altar und ging aus dem Kloſter hinaus. Sie ſtieg hernieder durch die Einſamkeit des Berges und wanderte, bis ſie in einem Eichenwalde auf einen Kreuzweg gelangte, wo ſie unſchlüſſig, nach welcher Seite ſie ſich wenden ſollte, ſich an einem Quell niederſetzte, der da für die Vorüberziehenden in Stein gefaßt und mit einer Bank verſehen war. Dort ſaß ſie, bis die Sonne aufging und wurde feucht vom fallenden Thau. Da ging die Sonne auf hinter dem Walde und ihre erſten Strahlen, welche durch die Waldſtraße ſchoſſen, trafen einen prächtigen Ritter, der völlig allein in ſeinen Waffen daher geritten kam. Die Nonne ſchaute aus ihren ſchönen Augen, ſo ſtark ſie konnte, und verlor keinen Zoll von der mannhaften Erſchei¬ nung ; aber ſie hielt ſich ſo ſtill, daß der Ritter ſie nicht geſehen, wenn nicht das Geräuſch des Brunnens ſein Ohr berührt und ſeine Augen hin gelenkt hätte. Sogleich bog er ſeitwärts nach dem Quell, ſtieg vom Pferde und ließ es trinken, während er die Nonne ehrerbietig begrüßte. Er war ein Kreuz¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/84
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/84>, abgerufen am 27.04.2024.