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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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machte die lieblichste Musik, denn jeder Strahl gab
einen andern Ton und das Ganze schien gestimmt
wie ein Saitenspiel. Es war sozusagen eine Wasser¬
harmonika, deren Akkorde alle Süßigkeiten der ersten
Mainacht durchbebten und mit den reizenden Formen
der Nymphengruppe in einander flossen; denn das
lebende Bild stand nicht still, sondern wandelte und
drehte sich unvermerkt.

Nicht ohne feine Bewegung führte der seltsame
Herr die Frau zu dem Ruhesitz und lud sie ein,
Platz zu nehmen; dann aber ergriff er gewaltsam
zärtlich ihre Hand und sagte mit einer das Mark
erschütternden Stimme: "Ich bin der ewig Einsame,
der aus dem Himmel fiel! Nur die Minne eines
guten irdischen Weibes in der Mainacht läßt mich das
Paradies vergessen und gibt mir Kraft, den ewigen
Untergang zu tragen. Sei mit mir zu Zweit und ich
will dich unsterblich machen und dir die Macht geben,
Gutes zu thun und Böses zu hindern, so viel es
dich freut!"

Er warf sich leidenschaftlich an die Brust des schönen
Weibes, welches seine Arme lächelnd öffnete; aber in
demselben Augenblicke nahm die heilige Jungfrau
ihre göttliche Gestalt an und schloß den Betrüger, der
nun gefangen war, mit aller Gewalt in ihre leuch¬
tenden Arme. Augenblicklich verschwand der Garten

machte die lieblichſte Muſik, denn jeder Strahl gab
einen andern Ton und das Ganze ſchien geſtimmt
wie ein Saitenſpiel. Es war ſozuſagen eine Waſſer¬
harmonika, deren Akkorde alle Süßigkeiten der erſten
Mainacht durchbebten und mit den reizenden Formen
der Nymphengruppe in einander floſſen; denn das
lebende Bild ſtand nicht ſtill, ſondern wandelte und
drehte ſich unvermerkt.

Nicht ohne feine Bewegung führte der ſeltſame
Herr die Frau zu dem Ruheſitz und lud ſie ein,
Platz zu nehmen; dann aber ergriff er gewaltſam
zärtlich ihre Hand und ſagte mit einer das Mark
erſchütternden Stimme: „Ich bin der ewig Einſame,
der aus dem Himmel fiel! Nur die Minne eines
guten irdiſchen Weibes in der Mainacht läßt mich das
Paradies vergeſſen und gibt mir Kraft, den ewigen
Untergang zu tragen. Sei mit mir zu Zweit und ich
will dich unſterblich machen und dir die Macht geben,
Gutes zu thun und Böſes zu hindern, ſo viel es
dich freut!“

Er warf ſich leidenſchaftlich an die Bruſt des ſchönen
Weibes, welches ſeine Arme lächelnd öffnete; aber in
demſelben Augenblicke nahm die heilige Jungfrau
ihre göttliche Geſtalt an und ſchloß den Betrüger, der
nun gefangen war, mit aller Gewalt in ihre leuch¬
tenden Arme. Augenblicklich verſchwand der Garten

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[40/0054] machte die lieblichſte Muſik, denn jeder Strahl gab einen andern Ton und das Ganze ſchien geſtimmt wie ein Saitenſpiel. Es war ſozuſagen eine Waſſer¬ harmonika, deren Akkorde alle Süßigkeiten der erſten Mainacht durchbebten und mit den reizenden Formen der Nymphengruppe in einander floſſen; denn das lebende Bild ſtand nicht ſtill, ſondern wandelte und drehte ſich unvermerkt. Nicht ohne feine Bewegung führte der ſeltſame Herr die Frau zu dem Ruheſitz und lud ſie ein, Platz zu nehmen; dann aber ergriff er gewaltſam zärtlich ihre Hand und ſagte mit einer das Mark erſchütternden Stimme: „Ich bin der ewig Einſame, der aus dem Himmel fiel! Nur die Minne eines guten irdiſchen Weibes in der Mainacht läßt mich das Paradies vergeſſen und gibt mir Kraft, den ewigen Untergang zu tragen. Sei mit mir zu Zweit und ich will dich unſterblich machen und dir die Macht geben, Gutes zu thun und Böſes zu hindern, ſo viel es dich freut!“ Er warf ſich leidenſchaftlich an die Bruſt des ſchönen Weibes, welches ſeine Arme lächelnd öffnete; aber in demſelben Augenblicke nahm die heilige Jungfrau ihre göttliche Geſtalt an und ſchloß den Betrüger, der nun gefangen war, mit aller Gewalt in ihre leuch¬ tenden Arme. Augenblicklich verſchwand der Garten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/54>, abgerufen am 19.04.2024.