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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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ihre Schulfuchserei nur verhüllt wurde, und es war
ein edleres Gefühl, als Eitelkeit, durch welches sie ihr
besseres Selbst in dem magischen Mondglanz nun er¬
kannte. Das machte ihr eben zu Muthe, wie wenn
sie die unrechte Karte ausgespielt hätte, um modern
zu reden, da es damals freilich keine Karten gab.

Plötzlich ließ sich ein rascher Männertritt hören;
Eugenia verbarg sich unwillkürlich im Schatten einer
Säule und sah die hohe Gestalt des Aquilinus heran¬
schreiten. Sie sah, wie er sich vor die Statue stellte,
dieselbe lange betrachtete und endlich den Arm um
ihren Hals legte, um einen leisen Kuß auf die
marmornen Lippen zu drücken. Dann hüllte er sich
in seinen Mantel und ging langsam hinweg, sich
mehr als einmal nach dem glänzenden Bilde um¬
schauend. Eugenia zitterte so stark, daß sie es selbst
bemerkte; zornig und gewaltsam nahm sie sich zu¬
sammen und trat wieder vor die Bildsäule mit dem
erhobenen Hammer, um dem sündhaften Spuck ein
Ende zu machen; aber statt das schöne Haupt zu zer¬
schlagen, drückte sie, in Thränen ausbrechend, eben¬
falls einen Kuß auf seine Lippen und eilte von dan¬
nen, da sich die Schritte der Nachtwache hören ließen.
Mit wogendem Busen schlich sie in ihre Zelle und
schlief selbige Nacht nicht, bis die Sonne aufging,
und während sie das Frühgebet versäumte, träumte

ihre Schulfuchſerei nur verhüllt wurde, und es war
ein edleres Gefühl, als Eitelkeit, durch welches ſie ihr
beſſeres Selbſt in dem magiſchen Mondglanz nun er¬
kannte. Das machte ihr eben zu Muthe, wie wenn
ſie die unrechte Karte ausgeſpielt hätte, um modern
zu reden, da es damals freilich keine Karten gab.

Plötzlich ließ ſich ein raſcher Männertritt hören;
Eugenia verbarg ſich unwillkürlich im Schatten einer
Säule und ſah die hohe Geſtalt des Aquilinus heran¬
ſchreiten. Sie ſah, wie er ſich vor die Statue ſtellte,
dieſelbe lange betrachtete und endlich den Arm um
ihren Hals legte, um einen leiſen Kuß auf die
marmornen Lippen zu drücken. Dann hüllte er ſich
in ſeinen Mantel und ging langſam hinweg, ſich
mehr als einmal nach dem glänzenden Bilde um¬
ſchauend. Eugenia zitterte ſo ſtark, daß ſie es ſelbſt
bemerkte; zornig und gewaltſam nahm ſie ſich zu¬
ſammen und trat wieder vor die Bildſäule mit dem
erhobenen Hammer, um dem ſündhaften Spuck ein
Ende zu machen; aber ſtatt das ſchöne Haupt zu zer¬
ſchlagen, drückte ſie, in Thränen ausbrechend, eben¬
falls einen Kuß auf ſeine Lippen und eilte von dan¬
nen, da ſich die Schritte der Nachtwache hören ließen.
Mit wogendem Buſen ſchlich ſie in ihre Zelle und
ſchlief ſelbige Nacht nicht, bis die Sonne aufging,
und während ſie das Frühgebet verſäumte, träumte

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[15/0029] ihre Schulfuchſerei nur verhüllt wurde, und es war ein edleres Gefühl, als Eitelkeit, durch welches ſie ihr beſſeres Selbſt in dem magiſchen Mondglanz nun er¬ kannte. Das machte ihr eben zu Muthe, wie wenn ſie die unrechte Karte ausgeſpielt hätte, um modern zu reden, da es damals freilich keine Karten gab. Plötzlich ließ ſich ein raſcher Männertritt hören; Eugenia verbarg ſich unwillkürlich im Schatten einer Säule und ſah die hohe Geſtalt des Aquilinus heran¬ ſchreiten. Sie ſah, wie er ſich vor die Statue ſtellte, dieſelbe lange betrachtete und endlich den Arm um ihren Hals legte, um einen leiſen Kuß auf die marmornen Lippen zu drücken. Dann hüllte er ſich in ſeinen Mantel und ging langſam hinweg, ſich mehr als einmal nach dem glänzenden Bilde um¬ ſchauend. Eugenia zitterte ſo ſtark, daß ſie es ſelbſt bemerkte; zornig und gewaltſam nahm ſie ſich zu¬ ſammen und trat wieder vor die Bildſäule mit dem erhobenen Hammer, um dem ſündhaften Spuck ein Ende zu machen; aber ſtatt das ſchöne Haupt zu zer¬ ſchlagen, drückte ſie, in Thränen ausbrechend, eben¬ falls einen Kuß auf ſeine Lippen und eilte von dan¬ nen, da ſich die Schritte der Nachtwache hören ließen. Mit wogendem Buſen ſchlich ſie in ihre Zelle und ſchlief ſelbige Nacht nicht, bis die Sonne aufging, und während ſie das Frühgebet verſäumte, träumte

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/29>, abgerufen am 22.11.2024.