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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Neide gepeinigt aufsprang und den Geheimschreiber
noch in derselben Stunde enthaupten ließ.

So war Theophilus noch am gleichen Tage für
immer mit Dorotheen vereinigt. Mit dem ruhigen
Blicke der Seligen empfieng sie ihn; wie zwei Tau¬
ben, die, vom Sturme getrennt, sich wieder gefunden
und erst in weitem Kreise die Heimath umziehen,
so schwebten die Vereinigten Hand in Hand, eilig, eilig
und ohne Rasten an den äußersten Ringen des Him¬
mels dahin, befreit von jeder Schwere und doch sie
selber. Dann trennten sie sich spielend und verloren
sich in weiter Unendlichkeit, während Jedes wußte,
wo das andere weile und was es denke, und zugleich
mit ihm alle Creatur und alles Dasein mit süßer
Liebe umfaßte. Dann suchten sie sich wieder mit
wachsendem Verlangen, das keinen Schmerz und keine
Ungeduld kannte; sie fanden sich und wallten wieder
vereinigt dahin oder ruhten im Anschauen ihrer selbst
und schauten die Nähe und Ferne der unendlichen
Welt. Aber einst geriethen sie in holdestem Vergessen
zu nahe an das krystallene Haus der heiligen Drei¬
faltigkeit und gingen hinein; dort verging ihnen das
Bewußtsein, indem sie, gleich Zwillingen unter dem
Herzen ihrer Mutter, entschliefen und wahrscheinlich
noch schlafen, wenn sie inzwischen nicht wieder haben
hinauskommen können.


Neide gepeinigt aufſprang und den Geheimſchreiber
noch in derſelben Stunde enthaupten ließ.

So war Theophilus noch am gleichen Tage für
immer mit Dorotheen vereinigt. Mit dem ruhigen
Blicke der Seligen empfieng ſie ihn; wie zwei Tau¬
ben, die, vom Sturme getrennt, ſich wieder gefunden
und erſt in weitem Kreiſe die Heimath umziehen,
ſo ſchwebten die Vereinigten Hand in Hand, eilig, eilig
und ohne Raſten an den äußerſten Ringen des Him¬
mels dahin, befreit von jeder Schwere und doch ſie
ſelber. Dann trennten ſie ſich ſpielend und verloren
ſich in weiter Unendlichkeit, während Jedes wußte,
wo das andere weile und was es denke, und zugleich
mit ihm alle Creatur und alles Daſein mit ſüßer
Liebe umfaßte. Dann ſuchten ſie ſich wieder mit
wachſendem Verlangen, das keinen Schmerz und keine
Ungeduld kannte; ſie fanden ſich und wallten wieder
vereinigt dahin oder ruhten im Anſchauen ihrer ſelbſt
und ſchauten die Nähe und Ferne der unendlichen
Welt. Aber einſt geriethen ſie in holdeſtem Vergeſſen
zu nahe an das kryſtallene Haus der heiligen Drei¬
faltigkeit und gingen hinein; dort verging ihnen das
Bewußtſein, indem ſie, gleich Zwillingen unter dem
Herzen ihrer Mutter, entſchliefen und wahrſcheinlich
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[135/0149] Neide gepeinigt aufſprang und den Geheimſchreiber noch in derſelben Stunde enthaupten ließ. So war Theophilus noch am gleichen Tage für immer mit Dorotheen vereinigt. Mit dem ruhigen Blicke der Seligen empfieng ſie ihn; wie zwei Tau¬ ben, die, vom Sturme getrennt, ſich wieder gefunden und erſt in weitem Kreiſe die Heimath umziehen, ſo ſchwebten die Vereinigten Hand in Hand, eilig, eilig und ohne Raſten an den äußerſten Ringen des Him¬ mels dahin, befreit von jeder Schwere und doch ſie ſelber. Dann trennten ſie ſich ſpielend und verloren ſich in weiter Unendlichkeit, während Jedes wußte, wo das andere weile und was es denke, und zugleich mit ihm alle Creatur und alles Daſein mit ſüßer Liebe umfaßte. Dann ſuchten ſie ſich wieder mit wachſendem Verlangen, das keinen Schmerz und keine Ungeduld kannte; ſie fanden ſich und wallten wieder vereinigt dahin oder ruhten im Anſchauen ihrer ſelbſt und ſchauten die Nähe und Ferne der unendlichen Welt. Aber einſt geriethen ſie in holdeſtem Vergeſſen zu nahe an das kryſtallene Haus der heiligen Drei¬ faltigkeit und gingen hinein; dort verging ihnen das Bewußtſein, indem ſie, gleich Zwillingen unter dem Herzen ihrer Mutter, entſchliefen und wahrſcheinlich noch ſchlafen, wenn ſie inzwiſchen nicht wieder haben hinauskommen können.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/149>, abgerufen am 22.11.2024.