Heinrich recht eigentlich in ihm das rothe Lebens¬ bächlein, das vorüber fließt, an welchem erst die bleiche geheimnißvolle Individualität des Nerven¬ systemes sitzt, wie der Knabe an der Quelle, immer durstig daraus trinkend, behende um sich schauend und dabei ein wahrer Hexenmeister von Proteus, bald Gesicht, bald Gehör, bald Geruch, bald Gefühl, jetzt Bewegung und jetzt Gedanke und Bewußtsein, und doch bezwingbar, wie Proteus, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen, wenn man das seltsame Wesen unerschro¬ cken greift und festhält.
Die Menschen, insofern sie sich unterrichten, zerfallen unter sich vorzüglich in zwei verschiedene Arten oder Classen; die eine derselben lernt ohne plastischen und drastischen Anknüpfungspunkt Alles, was ihr unter die Zähne geräth, Alles zu¬ mal, Alles mit gleicher Leichtigkeit oder Schwie¬ rigkeit, das Wichtige wie das Unwichtige, und Alles zu äußerlichem Gebrauche, schnell es ausge¬ bend und noch schneller vergessend, oder auch wohl die tönende Formel unermüdlich wiederho¬ lend, während der lebendige Inhalt schon längst
Heinrich recht eigentlich in ihm das rothe Lebens¬ baͤchlein, das voruͤber fließt, an welchem erſt die bleiche geheimnißvolle Individualitaͤt des Nerven¬ ſyſtemes ſitzt, wie der Knabe an der Quelle, immer durſtig daraus trinkend, behende um ſich ſchauend und dabei ein wahrer Hexenmeiſter von Proteus, bald Geſicht, bald Gehoͤr, bald Geruch, bald Gefuͤhl, jetzt Bewegung und jetzt Gedanke und Bewußtſein, und doch bezwingbar, wie Proteus, ſich in ſeiner wahren Geſtalt zu zeigen, wenn man das ſeltſame Weſen unerſchro¬ cken greift und feſthaͤlt.
Die Menſchen, inſofern ſie ſich unterrichten, zerfallen unter ſich vorzuͤglich in zwei verſchiedene Arten oder Claſſen; die eine derſelben lernt ohne plaſtiſchen und draſtiſchen Anknuͤpfungspunkt Alles, was ihr unter die Zaͤhne geraͤth, Alles zu¬ mal, Alles mit gleicher Leichtigkeit oder Schwie¬ rigkeit, das Wichtige wie das Unwichtige, und Alles zu aͤußerlichem Gebrauche, ſchnell es ausge¬ bend und noch ſchneller vergeſſend, oder auch wohl die toͤnende Formel unermuͤdlich wiederho¬ lend, waͤhrend der lebendige Inhalt ſchon laͤngſt
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Heinrich recht eigentlich in ihm das rothe Lebens¬
baͤchlein, das voruͤber fließt, an welchem erſt die
bleiche geheimnißvolle Individualitaͤt des Nerven¬
ſyſtemes ſitzt, wie der Knabe an der Quelle,
immer durſtig daraus trinkend, behende um
ſich ſchauend und dabei ein wahrer Hexenmeiſter
von Proteus, bald Geſicht, bald Gehoͤr, bald
Geruch, bald Gefuͤhl, jetzt Bewegung und jetzt
Gedanke und Bewußtſein, und doch bezwingbar,
wie Proteus, ſich in ſeiner wahren Geſtalt zu
zeigen, wenn man das ſeltſame Weſen unerſchro¬
cken greift und feſthaͤlt.
Die Menſchen, inſofern ſie ſich unterrichten,
zerfallen unter ſich vorzuͤglich in zwei verſchiedene
Arten oder Claſſen; die eine derſelben lernt ohne
plaſtiſchen und draſtiſchen Anknuͤpfungspunkt
Alles, was ihr unter die Zaͤhne geraͤth, Alles zu¬
mal, Alles mit gleicher Leichtigkeit oder Schwie¬
rigkeit, das Wichtige wie das Unwichtige, und
Alles zu aͤußerlichem Gebrauche, ſchnell es ausge¬
bend und noch ſchneller vergeſſend, oder auch
wohl die toͤnende Formel unermuͤdlich wiederho¬
lend, waͤhrend der lebendige Inhalt ſchon laͤngſt
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/74>, abgerufen am 24.11.2024.
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