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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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man diesen Vorgang alle Tage; hat Jemand eine
gute Wahrheit oder Thatsache geäußert, und sie
wird ihm angezweifelt, so fällt es ihm nicht ein,
darüber aufgebracht zu werden und sich in's Zeug
zu werfen; wenn derselbe Mensch aber eine Sache
erzählt oder vorgiebt, von der er doch nicht so
recht überzeugt und überführt ist, so wird er al¬
sobald in die größte Hitze gerathen und Ehre,
Gut und Leben verpfänden, am liebsten aber dem¬
jenigen gleich an den Kragen gehen, der ihm
einen Zweifel entgegensetzt. Wenn ein Bauers¬
mann sagt: Ich habe das Korn besehen; es ist
reif! der Nachbar aber erwiedert: Ich glaube
nicht, daß es reif ist! so wird er ruhig sprechen:
Das ist eure Sache! Ich halt' es für reif und
werde es schneiden! Wenn derselbe Bauer aber
sagt: Ich sah vergangene Nacht einen Geist auf
meinem Markstein sitzen, und der Nachbar, spricht:
Das ist nicht möglich, denn es giebt keine Gei¬
ster! so wird der Bauer einen großen Lärm er¬
heben, erstlich weil man ihm abstreitet, was er
mit eigenen Augen gesehen haben will, zweitens
weil man die Geister läugnet, und endlich weil

man dieſen Vorgang alle Tage; hat Jemand eine
gute Wahrheit oder Thatſache geaͤußert, und ſie
wird ihm angezweifelt, ſo faͤllt es ihm nicht ein,
daruͤber aufgebracht zu werden und ſich in's Zeug
zu werfen; wenn derſelbe Menſch aber eine Sache
erzaͤhlt oder vorgiebt, von der er doch nicht ſo
recht uͤberzeugt und uͤberfuͤhrt iſt, ſo wird er al¬
ſobald in die groͤßte Hitze gerathen und Ehre,
Gut und Leben verpfaͤnden, am liebſten aber dem¬
jenigen gleich an den Kragen gehen, der ihm
einen Zweifel entgegenſetzt. Wenn ein Bauers¬
mann ſagt: Ich habe das Korn beſehen; es iſt
reif! der Nachbar aber erwiedert: Ich glaube
nicht, daß es reif iſt! ſo wird er ruhig ſprechen:
Das iſt eure Sache! Ich halt' es fuͤr reif und
werde es ſchneiden! Wenn derſelbe Bauer aber
ſagt: Ich ſah vergangene Nacht einen Geiſt auf
meinem Markſtein ſitzen, und der Nachbar, ſpricht:
Das iſt nicht moͤglich, denn es giebt keine Gei¬
ſter! ſo wird der Bauer einen großen Laͤrm er¬
heben, erſtlich weil man ihm abſtreitet, was er
mit eigenen Augen geſehen haben will, zweitens
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[60/0070] man dieſen Vorgang alle Tage; hat Jemand eine gute Wahrheit oder Thatſache geaͤußert, und ſie wird ihm angezweifelt, ſo faͤllt es ihm nicht ein, daruͤber aufgebracht zu werden und ſich in's Zeug zu werfen; wenn derſelbe Menſch aber eine Sache erzaͤhlt oder vorgiebt, von der er doch nicht ſo recht uͤberzeugt und uͤberfuͤhrt iſt, ſo wird er al¬ ſobald in die groͤßte Hitze gerathen und Ehre, Gut und Leben verpfaͤnden, am liebſten aber dem¬ jenigen gleich an den Kragen gehen, der ihm einen Zweifel entgegenſetzt. Wenn ein Bauers¬ mann ſagt: Ich habe das Korn beſehen; es iſt reif! der Nachbar aber erwiedert: Ich glaube nicht, daß es reif iſt! ſo wird er ruhig ſprechen: Das iſt eure Sache! Ich halt' es fuͤr reif und werde es ſchneiden! Wenn derſelbe Bauer aber ſagt: Ich ſah vergangene Nacht einen Geiſt auf meinem Markſtein ſitzen, und der Nachbar, ſpricht: Das iſt nicht moͤglich, denn es giebt keine Gei¬ ſter! ſo wird der Bauer einen großen Laͤrm er¬ heben, erſtlich weil man ihm abſtreitet, was er mit eigenen Augen geſehen haben will, zweitens weil man die Geiſter laͤugnet, und endlich weil

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/70>, abgerufen am 24.11.2024.