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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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türliche glauben, so lange wir es nicht ausge¬
messen haben und mit unseren kleinen Schädeln
an den Rand gestoßen sind, und sie ist es, welche
uns zuruft: Was wollet ihr aus der Schule
laufen und suchet ein Verdienst darin, an das
Uebernatürliche zu glauben, welches der Tod des
Natürlichen ist, so lange eure kühnsten und er¬
habensten übernatürlichen Einbildungen und Vor¬
stellungen noch tausendmal dunkler, ungewisser
und kleiner sind, als die natürlichen Wirklichkei¬
ten, zu deren Erkenntniß und Begriff ihr ein
sicheres Pfand in der Hand habt? Ist das Ver¬
dienst, Treue, Ausdauer und Weisheit? Nein, es
ist Untreue, Feldflüchtigkeit und Thorheit!

Dergleichen Dinge ließ der vortragende Leh¬
rer, nicht in solchen Ausdrücken, aber mit solchen
Eindrücken seine Zuhörer gelegentlich zwischen den
Zeilen lesen. Heinrich gehörte zu denen, welche
recht wohl zwischen den Zeilen zu lesen wußten,
und zwar weil er einen natürlichen Sinn für das
Erhebliche besaß, auf welches es ankommt, und
mit der Aufmerksamkeit und dem raschen Instincte
der Autodidakten das Wesentliche ersah, das hin¬

tuͤrliche glauben, ſo lange wir es nicht ausge¬
meſſen haben und mit unſeren kleinen Schaͤdeln
an den Rand geſtoßen ſind, und ſie iſt es, welche
uns zuruft: Was wollet ihr aus der Schule
laufen und ſuchet ein Verdienſt darin, an das
Uebernatuͤrliche zu glauben, welches der Tod des
Natuͤrlichen iſt, ſo lange eure kuͤhnſten und er¬
habenſten uͤbernatuͤrlichen Einbildungen und Vor¬
ſtellungen noch tauſendmal dunkler, ungewiſſer
und kleiner ſind, als die natuͤrlichen Wirklichkei¬
ten, zu deren Erkenntniß und Begriff ihr ein
ſicheres Pfand in der Hand habt? Iſt das Ver¬
dienſt, Treue, Ausdauer und Weisheit? Nein, es
iſt Untreue, Feldfluͤchtigkeit und Thorheit!

Dergleichen Dinge ließ der vortragende Leh¬
rer, nicht in ſolchen Ausdruͤcken, aber mit ſolchen
Eindruͤcken ſeine Zuhoͤrer gelegentlich zwiſchen den
Zeilen leſen. Heinrich gehoͤrte zu denen, welche
recht wohl zwiſchen den Zeilen zu leſen wußten,
und zwar weil er einen natuͤrlichen Sinn fuͤr das
Erhebliche beſaß, auf welches es ankommt, und
mit der Aufmerkſamkeit und dem raſchen Inſtincte
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[56/0066] tuͤrliche glauben, ſo lange wir es nicht ausge¬ meſſen haben und mit unſeren kleinen Schaͤdeln an den Rand geſtoßen ſind, und ſie iſt es, welche uns zuruft: Was wollet ihr aus der Schule laufen und ſuchet ein Verdienſt darin, an das Uebernatuͤrliche zu glauben, welches der Tod des Natuͤrlichen iſt, ſo lange eure kuͤhnſten und er¬ habenſten uͤbernatuͤrlichen Einbildungen und Vor¬ ſtellungen noch tauſendmal dunkler, ungewiſſer und kleiner ſind, als die natuͤrlichen Wirklichkei¬ ten, zu deren Erkenntniß und Begriff ihr ein ſicheres Pfand in der Hand habt? Iſt das Ver¬ dienſt, Treue, Ausdauer und Weisheit? Nein, es iſt Untreue, Feldfluͤchtigkeit und Thorheit! Dergleichen Dinge ließ der vortragende Leh¬ rer, nicht in ſolchen Ausdruͤcken, aber mit ſolchen Eindruͤcken ſeine Zuhoͤrer gelegentlich zwiſchen den Zeilen leſen. Heinrich gehoͤrte zu denen, welche recht wohl zwiſchen den Zeilen zu leſen wußten, und zwar weil er einen natuͤrlichen Sinn fuͤr das Erhebliche beſaß, auf welches es ankommt, und mit der Aufmerkſamkeit und dem raſchen Inſtincte der Autodidakten das Weſentliche erſah, das hin¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/66>, abgerufen am 27.04.2024.