scheinung, welche Heinrich die schönäugigste und anmuthigste Person dünkte, die er je gesehen, von so unverhohlener, natürlicher und doch kluger Freundlichkeit, daß er von dem Anblick ein neues Leben gewann, sich schnell aufrichtete und eine höfliche Verbeugung vor ihr machte. Aber indem er seinen nassen Hut schwenkte, fiel derselbe gänz¬ lich zusammen und er hielt den übel aussehenden wie ein schlechtes Symbol in der Hand. So stand er denn auch gar über und über mit Schlamm und Koth bedeckt vor der schönen Per¬ son, die ihn aufmerksam betrachtete, und er schlug höchst verlegen die Augen nieder und schämte sich vor ihr, indessen er doch ein wenig lächeln mußte, denn er gedachte sogleich wieder des unglückseli¬ gen Römer, welcher ihm einst den vor der schö¬ nen Nausikaa sich schämenden Odysseus poetisch erklärt hatte. "O," dachte er, "da es noch hie und da eine Nausikaa giebt, so werde ich auch mein Ithaka noch erreichen! Aber welch' närrische Odys¬ seen sind dies im neunzehnten Jahrhundert christ¬ licher Zeitrechnung!"
Diese Betrachtung dauerte aber nur einen
ſcheinung, welche Heinrich die ſchoͤnaͤugigſte und anmuthigſte Perſon duͤnkte, die er je geſehen, von ſo unverhohlener, natuͤrlicher und doch kluger Freundlichkeit, daß er von dem Anblick ein neues Leben gewann, ſich ſchnell aufrichtete und eine hoͤfliche Verbeugung vor ihr machte. Aber indem er ſeinen naſſen Hut ſchwenkte, fiel derſelbe gaͤnz¬ lich zuſammen und er hielt den uͤbel ausſehenden wie ein ſchlechtes Symbol in der Hand. So ſtand er denn auch gar uͤber und uͤber mit Schlamm und Koth bedeckt vor der ſchoͤnen Per¬ ſon, die ihn aufmerkſam betrachtete, und er ſchlug hoͤchſt verlegen die Augen nieder und ſchaͤmte ſich vor ihr, indeſſen er doch ein wenig laͤcheln mußte, denn er gedachte ſogleich wieder des ungluͤckſeli¬ gen Roͤmer, welcher ihm einſt den vor der ſchoͤ¬ nen Nauſikaa ſich ſchaͤmenden Odyſſeus poetiſch erklaͤrt hatte. »O,« dachte er, »da es noch hie und da eine Nauſikaa giebt, ſo werde ich auch mein Ithaka noch erreichen! Aber welch' naͤrriſche Odyſ¬ ſeen ſind dies im neunzehnten Jahrhundert chriſt¬ licher Zeitrechnung!«
Dieſe Betrachtung dauerte aber nur einen
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ſcheinung, welche Heinrich die ſchoͤnaͤugigſte und
anmuthigſte Perſon duͤnkte, die er je geſehen,
von ſo unverhohlener, natuͤrlicher und doch kluger
Freundlichkeit, daß er von dem Anblick ein neues
Leben gewann, ſich ſchnell aufrichtete und eine
hoͤfliche Verbeugung vor ihr machte. Aber indem
er ſeinen naſſen Hut ſchwenkte, fiel derſelbe gaͤnz¬
lich zuſammen und er hielt den uͤbel ausſehenden
wie ein ſchlechtes Symbol in der Hand. So
ſtand er denn auch gar uͤber und uͤber mit
Schlamm und Koth bedeckt vor der ſchoͤnen Per¬
ſon, die ihn aufmerkſam betrachtete, und er ſchlug
hoͤchſt verlegen die Augen nieder und ſchaͤmte ſich
vor ihr, indeſſen er doch ein wenig laͤcheln mußte,
denn er gedachte ſogleich wieder des ungluͤckſeli¬
gen Roͤmer, welcher ihm einſt den vor der ſchoͤ¬
nen Nauſikaa ſich ſchaͤmenden Odyſſeus poetiſch
erklaͤrt hatte. »O,« dachte er, »da es noch hie und
da eine Nauſikaa giebt, ſo werde ich auch mein
Ithaka noch erreichen! Aber welch' naͤrriſche Odyſ¬
ſeen ſind dies im neunzehnten Jahrhundert chriſt¬
licher Zeitrechnung!«
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/310>, abgerufen am 22.11.2024.
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