Seitenwegen zur Post; denn sie wünschte um Alles in der Welt nicht, daß Jemand sie sähe, und zwar aus dem Grunde, weil sie, befragt, wo sie mit dem Gelde hinwolle, durchaus um eine Ant¬ wort verlegen gewesen wäre. Sie reichte, den seidenen Ridikül verschämt und zitternd abstreifend, den Pack durch das Schiebfensterchen, der Post¬ beamte besah die Adresse und dann die Frau, gab ihr den Empfangschein, und sie machte sich davon, als ob sie so viel Geld Jemandem genommen, anstatt gegeben hatte. Der linke Arm, auf wel¬ chem sie das Geld getragen, war ganz steif und ermüdet, und so kehrte sie auch körperlich ange¬ griffen in ihre Behausung zurück und war froh, als sie dort war. Nichts desto minder fühlte sie einen gewissen mütterlichen Stolz, als sie durch so viele selbstzufriedene und prahlende Männer und Weiber hindurchging, welche unfehlbar ihren Gang scharf getadelt hätten und selbst eher da¬ für, daß sie den Knieriemen tüchtig handhabten, sich am liebsten von ihren Kindern gleich einen Erziehergehalt ausbezahlen ließen, anstatt irgend et¬ was Ungewöhnliches für sie zu opfern oder zu wagen.
Seitenwegen zur Poſt; denn ſie wuͤnſchte um Alles in der Welt nicht, daß Jemand ſie ſaͤhe, und zwar aus dem Grunde, weil ſie, befragt, wo ſie mit dem Gelde hinwolle, durchaus um eine Ant¬ wort verlegen geweſen waͤre. Sie reichte, den ſeidenen Ridikuͤl verſchaͤmt und zitternd abſtreifend, den Pack durch das Schiebfenſterchen, der Poſt¬ beamte beſah die Adreſſe und dann die Frau, gab ihr den Empfangſchein, und ſie machte ſich davon, als ob ſie ſo viel Geld Jemandem genommen, anſtatt gegeben hatte. Der linke Arm, auf wel¬ chem ſie das Geld getragen, war ganz ſteif und ermuͤdet, und ſo kehrte ſie auch koͤrperlich ange¬ griffen in ihre Behauſung zuruͤck und war froh, als ſie dort war. Nichts deſto minder fuͤhlte ſie einen gewiſſen muͤtterlichen Stolz, als ſie durch ſo viele ſelbſtzufriedene und prahlende Maͤnner und Weiber hindurchging, welche unfehlbar ihren Gang ſcharf getadelt haͤtten und ſelbſt eher da¬ fuͤr, daß ſie den Knieriemen tuͤchtig handhabten, ſich am liebſten von ihren Kindern gleich einen Erziehergehalt ausbezahlen ließen, anſtatt irgend et¬ was Ungewoͤhnliches fuͤr ſie zu opfern oder zu wagen.
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Seitenwegen zur Poſt; denn ſie wuͤnſchte um
Alles in der Welt nicht, daß Jemand ſie ſaͤhe, und
zwar aus dem Grunde, weil ſie, befragt, wo ſie
mit dem Gelde hinwolle, durchaus um eine Ant¬
wort verlegen geweſen waͤre. Sie reichte, den
ſeidenen Ridikuͤl verſchaͤmt und zitternd abſtreifend,
den Pack durch das Schiebfenſterchen, der Poſt¬
beamte beſah die Adreſſe und dann die Frau, gab
ihr den Empfangſchein, und ſie machte ſich davon,
als ob ſie ſo viel Geld Jemandem genommen,
anſtatt gegeben hatte. Der linke Arm, auf wel¬
chem ſie das Geld getragen, war ganz ſteif und
ermuͤdet, und ſo kehrte ſie auch koͤrperlich ange¬
griffen in ihre Behauſung zuruͤck und war froh,
als ſie dort war. Nichts deſto minder fuͤhlte ſie
einen gewiſſen muͤtterlichen Stolz, als ſie durch
ſo viele ſelbſtzufriedene und prahlende Maͤnner
und Weiber hindurchging, welche unfehlbar ihren
Gang ſcharf getadelt haͤtten und ſelbſt eher da¬
fuͤr, daß ſie den Knieriemen tuͤchtig handhabten,
ſich am liebſten von ihren Kindern gleich einen
Erziehergehalt ausbezahlen ließen, anſtatt irgend et¬
was Ungewoͤhnliches fuͤr ſie zu opfern oder zu wagen.
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/163>, abgerufen am 30.11.2024.
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