Viele unter ihnen, wie die Künstler und Schrift¬ menschen, empfangen ihre Nahrung nicht einmal von denen, welche der Natur näher stehen, sondern wieder von solchen, welche ihr eben so entfernt stehen, wie sie selbst, und eine künstliche abstracte Existenz führen, so daß der ganze Verkehr ein Gefecht in der Luft, eine ungeheure Abstraction ist, hoch über dem festen Boden der Mutter Na¬ tur. Und selbst dann noch, wenn die Einen die Mittel ihres Daseins von den Anderen empfangen, geschieht dieses so unberechenbar, launenhaft und zufällig, daß Jeder, dem es gelungen ist, dies nicht als den Lohn seines Strebens, sein Verdienst be¬ trachten darf, sondern es als einen blinden Glücks¬ fall, als einen Lotteriegewinnst preisen muß. In diesem seltsamen Zusammentreffen der Geister, oder vielmehr der Leiber ist der unmittelbare Pro¬ ceß des Essens, des Zusichnehmens der Nahrung zwar noch nicht offen als eine Tugend und Ehre an sich ausgesprochen, und noch immer gilt zur Nothdurft die Moral, daß das Essen eine ver¬ dienstlose Nothwendigkeit sei, obgleich Mancher sein Brot so ißt, daß man sieht, er macht sich
IV. 8
Viele unter ihnen, wie die Kuͤnſtler und Schrift¬ menſchen, empfangen ihre Nahrung nicht einmal von denen, welche der Natur naͤher ſtehen, ſondern wieder von ſolchen, welche ihr eben ſo entfernt ſtehen, wie ſie ſelbſt, und eine kuͤnſtliche abſtracte Exiſtenz fuͤhren, ſo daß der ganze Verkehr ein Gefecht in der Luft, eine ungeheure Abſtraction iſt, hoch uͤber dem feſten Boden der Mutter Na¬ tur. Und ſelbſt dann noch, wenn die Einen die Mittel ihres Daſeins von den Anderen empfangen, geſchieht dieſes ſo unberechenbar, launenhaft und zufaͤllig, daß Jeder, dem es gelungen iſt, dies nicht als den Lohn ſeines Strebens, ſein Verdienſt be¬ trachten darf, ſondern es als einen blinden Gluͤcks¬ fall, als einen Lotteriegewinnſt preiſen muß. In dieſem ſeltſamen Zuſammentreffen der Geiſter, oder vielmehr der Leiber iſt der unmittelbare Pro¬ ceß des Eſſens, des Zuſichnehmens der Nahrung zwar noch nicht offen als eine Tugend und Ehre an ſich ausgeſprochen, und noch immer gilt zur Nothdurft die Moral, daß das Eſſen eine ver¬ dienſtloſe Nothwendigkeit ſei, obgleich Mancher ſein Brot ſo ißt, daß man ſieht, er macht ſich
IV. 8
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Viele unter ihnen, wie die Kuͤnſtler und Schrift¬
menſchen, empfangen ihre Nahrung nicht einmal
von denen, welche der Natur naͤher ſtehen, ſondern
wieder von ſolchen, welche ihr eben ſo entfernt
ſtehen, wie ſie ſelbſt, und eine kuͤnſtliche abſtracte
Exiſtenz fuͤhren, ſo daß der ganze Verkehr ein
Gefecht in der Luft, eine ungeheure Abſtraction
iſt, hoch uͤber dem feſten Boden der Mutter Na¬
tur. Und ſelbſt dann noch, wenn die Einen die
Mittel ihres Daſeins von den Anderen empfangen,
geſchieht dieſes ſo unberechenbar, launenhaft und
zufaͤllig, daß Jeder, dem es gelungen iſt, dies nicht
als den Lohn ſeines Strebens, ſein Verdienſt be¬
trachten darf, ſondern es als einen blinden Gluͤcks¬
fall, als einen Lotteriegewinnſt preiſen muß. In
dieſem ſeltſamen Zuſammentreffen der Geiſter,
oder vielmehr der Leiber iſt der unmittelbare Pro¬
ceß des Eſſens, des Zuſichnehmens der Nahrung
zwar noch nicht offen als eine Tugend und Ehre
an ſich ausgeſprochen, und noch immer gilt zur
Nothdurft die Moral, daß das Eſſen eine ver¬
dienſtloſe Nothwendigkeit ſei, obgleich Mancher
ſein Brot ſo ißt, daß man ſieht, er macht ſich
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/123>, abgerufen am 29.11.2024.
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